Kindesmissbrauch oft folgenlos "Cyber-Grooming ist im Internet allgegenwärtig"
29.05.2023, 09:47 Uhr Artikel anhören
"Für viele Kinder ist sexuelle Belästigung im Internet so normal, dass sie diese gar nicht mehr als strafbare Handlung empfinden", sagt Experte Rüdiger.
(Foto: imago images/ingimage)
Kindesmissbrauch spielt sich zunehmend im Internet ab. Die Bundesbeauftragte für Fragen sexuellen Kindesmissbrauchs, Kerstin Claus, fordert ein Recht auf Schutz von Kindern in der digitalen Welt. Denn Phänomene wie Cyber-Grooming gehören in der digitalen Welt zum Alltag, sagt auch Thomas-Gabriel Rüdiger, Leiter des Instituts für Cyberkriminologie der Hochschule der Polizei des Landes Brandenburg.
Beim Cyber-Grooming kontaktieren Täter und Täterinnen über das Internet Kinder mit dem Ziel, sie zu missbrauchen. Allein die Intention ist schon strafbar. Eltern und die Sicherheitsbehörden würden Heranwachsende jedoch oftmals alleine lassen, sagt der Experte. Dabei wäre es eigentlich ein Leichtes, Täter zu überführen.
ntv.de: Laut dem Bundeskriminalamt ist die Zahl der Missbrauchsdarstellungen angestiegen, vor allem im Internet. Beim Cyber-Grooming sieht es anders aus. Dort verzeichnet die Polizeiliche Kriminalstatistik für das Jahr 2022 insgesamt 2878 Sachverhalte, das sind rund 600 weniger als im Vorjahr. Wie erklären Sie sich diesen Rückgang?

Thomas-Gabriel Rüdiger ist Leiter des Instituts für Cyberkriminologie der Hochschule der Polizei des Landes Brandenburg.
(Foto: stine_photography)
Thomas-Gabriel Rüdiger: Neben einem pandemiebedingten Rückgang - schlicht, weil Kinder jetzt wieder weniger Zeit im digitalen Raum verbringen - könnte es an einem traditionell sehr hohen Dunkelfeld liegen. Nach einer repräsentativen Studie der Landesmedienanstalt Nordrhein-Westfalen berichten 24 Prozent aller Kinder und Jugendlichen von der Konfrontation mit dem Phänomen. 2021 berichteten nur etwa neun Prozent der acht- bis neunjährigen Kinder davon, dass Erwachsene sich über das Internet mit ihnen verabreden wollten, 2022 waren es schon 20 Prozent. Wir sehen also eine Verjüngung der betroffenen Kinder. In der Studie wurde explizit nach Erwachsenen gefragt, die minderjährigen Tatverdächtigen sind also gar nicht mit eingeflossen, obwohl sie circa 40 bis 45 Prozent aller Tatverdächtigen von Cyber-Grooming ausmachen.
Lässt sich noch von Cyber-Grooming sprechen, wenn Bilder oder Videos versendet worden sind?
Die Polizeiliche Kriminalstatistik beinhaltet immer Schwächen im Aufnahmeverfahren. Wenn Cyber-Grooming leider erfolgreich war und zum Beispiel Nacktaufnahmen der Kinder entstanden, werden diese eher unter den Tatbeständen der sogenannten "kinderpornographischen Inhalte" erfasst. Man kann aus der Polizeilichen Kriminalstatistik also nicht ablesen, ob dem Austausch der Materialien Cyber-Grooming vorangegangen ist oder nicht. Hier haben wir also eine Art Dunkelfeld im Hellfeld. Das ist aber nicht der Hauptgrund, warum die Zahlen zu Cyber-Grooming zurückgegangen sind.
Welcher ist das?
Offenbar ist das Dunkelfeld bei Cyber-Grooming gestiegen, während das Hellfeld gesunken ist. Dies könnte auf eine gesunkene Anzeigewahrscheinlichkeit hindeuten, ein schlechtes Zeichen. Dabei gibt es zwei primäre Formen von Anzeigen: die von Betroffenen oder Angehörigen und die von Sicherheitsbehörden. 2021 gab es eine Strafrechtsreform, die dazu geführt hat, dass sogenannte Scheinkindkonstellationen explizit strafbar werden. Bei diesen gibt sich ein Erwachsener im Netz als Kind aus und lässt sich passiv ansprechen. Wenn früher Täterinnen oder Täter mit dieser Person interagiert haben, war dies nicht immer strafbar, denn sie chatteten ja eigentlich mit einem Erwachsenen. Das hat der Gesetzgeber geändert, mit dem Ziel, die Bekämpfung von Cyber-Grooming durch die Ermittlungsbehörden zu erleichtern. Kriminalpolitisch sehe ich da kontraproduktive Effekte, weil das den Handlungsspielraum der Sicherheitsbehörden deutlich verringert hat.
Das müssen Sie genauer ausführen.
Die Sicherheitsbehörden müssen jeden Anfangsverdacht verfolgen. Früher war es so: Wenn sich Ermittler als Kinder ausgegeben haben, konnten sie abwarten, bis jemand schwerwiegende sexuelle Interaktionen durchgeführt hat, damit die Schwelle zur Strafbarkeit erfüllt ist. Sprich, sie mussten nur die eindeutigen Fälle verfolgen. Durch die Gesetzesanpassung könnte jetzt in fast jedem tiefergehenden Gespräch mit dem Scheinkind ein strafbarer Versuch bestehen und die Strafverfolgungspflicht auslösen. Das hat womöglich dazu geführt, dass Sicherheitsbehörden solche Operationen seltener machen und deutlich weniger Taten ans Licht kommen - auch, weil jetzt ganz andere Ressourcen für solche Operationen notwendig wären. Insgesamt sind in der Polizeilichen Kriminalstatistik 2022 nur 102 Fälle auf eine Scheinkindkonstellation zurückzuführen, das entspricht knapp fünf Prozent.
Wie sehen die tatsächlichen Zahlen aus?
2021 wurden in der RTL-Sendung "Angriff auf unsere Kinder" solche Scheinkindoperationen mit drei Schauspielerinnen durchgeführt. Innerhalb von zwei bis drei Tagen gab es etwa 500 Anbahnungen. Eine Größenordnung, die durchaus als normal angesehen werden kann, wenn man beachtet, dass es Täter mit 600 Opfern gibt. Jetzt stellen Sie sich vor, die Sicherheitsbehörden würden diese Operationen regelmäßig durchführen - die Anzahl der aufgedeckten Taten wäre vermutlich immens. Auch, weil die Aufklärungsquote enorm hoch ist. Bei den Scheinkindkonstellationen beträgt sie laut der Polizeilichen Kriminalstatistik etwa 90 Prozent.
Das klingt, als wären die Täterinnen und Täter äußerst unvorsichtig.
Die Wahrscheinlichkeit, überhaupt angezeigt zu werden, ist ja auch sehr gering. Manche Täterinnen und Täter fühlen sich entsprechend sicher und geben in der Kommunikation mit dem Kind ihren richtigen Namen oder ihre Handynummer preis, um Nacktbilder auszutauschen. Entsprechend einfach kann eine Überführung sein. Dazu kommt, dass minderjährige Tatverdächtige oftmals gar nicht wissen, dass sie sich strafbar machen und entsprechend offen auftreten und damit sicherlich leichter ermittelt werden können.
Sehen Sie also eine Normalisierung von sexueller Belästigung im Internet?
Cyber-Grooming ist im Internet allgegenwärtig, damit wachsen mittlerweile ganze Generationen auf. Von sogenannten "creepy Typen" in Onlinespielen, sozialen Medien oder Chats können viele erzählen. Bereits 2013 kam ein NRW-Lagebild zu Cybercrime zu der Schlussfolgerung, dass für viele Kinder und Jugendliche die sexuelle Annäherung im Internet so normal sei, dass sie diese gar nicht mehr als strafbare Handlung empfinden.
Sind da nicht auch die Eltern gefragt?
Das Problem ist, dass viele Eltern ihre Kinder nicht auf die digitale Welt vorbereiten wollen oder können, sondern ihnen relativ unkontrolliert immer früher ein Smartphone überlassen. Mit jedem Smartphone erhalten Kinder faktisch den Zugang zu einem globalen Kommunikationsraum. Dass das eigentlich riskant ist, erscheint mir offensichtlich. Ein Problem dabei ist, dass sich dann auch manche Kinder nicht an ihre Eltern wenden, wenn etwas passiert. Ein Beispiel: Jemand schreibt einem Kind in einem Onlinespiel "Schick mir ein Nacktbild von dir oder ich bringe deine Eltern um". Dann hat das Kind zwei Möglichkeiten. Es kann die Eltern informieren, allerdings auf die Gefahr hin, dass diese dem Kind das Handy wegnehmen oder das Spiel verbieten. Wenn das Kind aber das Nacktbild versendet, hätte es das Problem auch so gelöst. Entsprechend wissen Eltern teilweise gar nicht, was passiert, und die Kinder versuchen stattdessen die Situation selbst zu lösen oder Hilfe bei Freunden oder gar online zu finden.
Gibt es denn ausreichend Hilfsangebote online?
Insgesamt sehe ich kaum eine nutzerfreundliche Möglichkeit für Kinder online in irgendeiner Form einen Sachverhalt der Polizei zu melden. Meiner Meinung nach gibt es hier tatsächlich Lücken. Viele Angebote stellen nur passiv Informationen bereit und sind nicht auf die spezifischen Kommunikationsanforderungen für Kinder angepasst. Die 16 Internet- und Onlinewachen der Polizei sind beispielsweise sicherlich nicht dafür ausgelegt, dass Kinder diese eigenständig nutzen. Außerdem fehlt die aktive Interaktion mit dem Kind auf Augenhöhe, damit überhaupt herausgefunden werden kann, was genau passiert ist. Zwar ist die Polizei auch auf Plattformen wie Instagram oder Tiktok vertreten, dort lassen sich in der Regel aber keine Anzeigen stellen.
Was schlagen Sie vor?
Ich stelle mir eine Kinderonlinewache vor, wo Kinder unkompliziert Hilfe suchen können. Das wäre ein einzelner Ort, der vielleicht sogar mit einem digitalen Notrufknopf erreichbar wäre. Dort ständen dann Ärztinnen und Ärzte, Psychologinnen und Psychologen oder Polizeibeamte per Videonachricht bereit, um Kindern bei problematischen Situationen zur Seite zu stehen und gegebenenfalls auch gleich Anzeigen aufzunehmen. Wir brauchen sichtbare und ansprechbare Polizeistreifen im digitalen Raum. In Dänemark gibt es zum Beispiel Online-Polizeistreifen, die in Spielen wie Minecraft oder auf Streamingplattformen wie Twitch unterwegs sind. Das zeigt den Tätern: Wir sind auch da. Und signalisiert den Opfern: Sprich uns an, wenn etwas passiert. In Österreich hat man reagiert und das Schulfach "Digitale Grundbildung" eingeführt. Warum geht das in Deutschland nicht? Wir brauchen eine Form der verpflichtenden Vermittlung von Medienkompetenz ab der ersten Klasse auch als Teil einer echten Strategie zur digitalen Kriminalprävention.
Mit Thomas-Gabriel Rüdiger sprach Marc Dimpfel
Quelle: ntv.de