Was sind die Risiken? Die Corona-Sommerwelle türmt sich auf
24.06.2022, 20:11 Uhr
Vorschriften gibt es nicht, Bürgerinnen und Bürger müssen selbst entscheiden, wie sie sich verhalten.
(Foto: IMAGO/Wolfgang Maria Weber)
Die Corona-Neuinfektionen gehen steil nach oben, die Sommerwelle nimmt an Fahrt auf. Kritisch für das Gesundheitssystem wird sie wahrscheinlich nicht, aber Studien zeigen unter anderem, dass fast niemand vor einer Ansteckung sicher ist und auch Reinfektionen problematisch sein können.
Obwohl es Sommer ist, steigen in Deutschland die Covid-19-Inzidenzen wieder schnell und deutlich an. Der Hauptgrund dafür ist die Ausbreitung der hochansteckenden Subvarianten Omikron BA.5, bereits jede zweite Infektion geht auf ihr Konto. Gravierende Probleme erwartet bisher kaum ein Experte, doch Studien zeigen, dass man auch diese Welle nicht zu locker nehmen sollte.
Die Zahl der Neuinfektionen hat bei einem 7-Tage-R-Wert von etwa 1,3 im Vergleich zur Vorwoche um fast 23 Prozent zugenommen, die bundesweite 7-Tage-Inzidenz liegt bei knapp 620 Fällen pro 100.000 Einwohner. Tatsächlich dürften es aber wesentlich mehr sein. Angesichts einer Test-Positivrate von rund 42 Prozent und dem Umstand, dass viele Infizierte keinen PCR-Test machen, ist die Dunkelziffer wahrscheinlich sehr hoch.
Welle rollt von West nach Ost
Dass Impfungen zwar vor schweren Erkrankungen, aber kaum vor einer Infektion schützen, sieht man an Schleswig-Holstein. 80 Prozent der Bevölkerung sind dort grundimmunisiert, 70 Prozent geboostert - das sind Spitzenwerte. Trotzdem hat Schleswig-Holstein aktuell mit 883 Neuinfektionen die höchste Inzidenz unter den Bundesländern. Es folgen Niedersachsen und das Saarland mit 861 beziehungsweise 836 Fällen.
Trotz relativ schlechter Impfquoten haben Thüringen (241), Sachsen (317) und Sachsen-Anhalt (340) die niedrigsten Fallzahlen. Die Welle rollt also von West nach Ost durch die Bundesrepublik.
Die steigenden Inzidenzen machen sich auch in den Krankenhäusern bemerkbar. Nach einem Tiefstand von knapp 600 Patienten am 11. Juni liegen jetzt wieder rund 790 Covid-19-Infizierte auf deutschen Intensivstationen, 3,7 Prozent der betreibbaren Betten für Erwachsene sind dort von Corona-Patienten belegt. Die 7-Tage-Inzidenz der Hospitalisierungen ist auf 5,16 Fälle pro 100.000 Einwohner gestiegen.
Keine großen Probleme für Krankenhäuser erwartet
Die Zahl der sehr schweren Erkrankungen liegt bisher aber noch in Bereichen, die weit von einer starken Belastung des Gesundheitssystems entfernt sind. Im vergangenen Winter mussten bis zu 5000 Covid-19-Patienten intensiv versorgt werden und die Zahl der registrierten Corona-Todesfälle ist bisher mit täglich rund 70 Opfern auf einem relativ niedrigem Niveau geblieben. Anfang Mai starben in Deutschland noch etwa 180 Menschen an oder mit Covid-19. Allerdings sind aktuell erst die Auswirkungen vom Beginn der Welle zu beobachten.
Auch wenn die Inzidenzen noch deutlich steigen sollten, wird sich die Lage in den Krankenhäusern vermutlich nicht deutlich verschärfen. Das lässt unter anderem ein Blick nach Portugal hoffen, wo BA.5 zu einer Frühlingswelle mit bis zu 2000 Neuinfektionen pro Woche und 100.000 Einwohner führte.
Die Hospitalisierungen nahmen dort zwar deutlich zu und erreichten auf dem Höhepunkt die Zahl von knapp 2000 hospitalisierten Covid-19-Patienten. Doch die Lage auf den Intensivstationen blieb durchgehend entspannt und näherte sich nie dem kritischen Wert von 255 Patienten. Aktuell werden weniger als 70 Menschen in Portugal wegen Corona intensiv versorgt. Die erhöhte Sterblichkeit ist eher auf eine nachlassende Impfwirkung, vor allem bei über 80-Jährigen, zurückzuführen.
Auch Bundesgesundheitsminister Lauterbach bleibt bisher relativ gelassen. Im Fall der Omikron-Varianten verlaufe die Krankheit milder als bei Varianten vom Delta-Typ. Zudem seien viele Menschen geimpft oder genesen, sagte er vergangene Woche.
Einfach laufen lassen?
Virologe Klaus Stöhr sieht in der Sommerwelle keinen Grund, Infektionen durch Masken und Abstandhalten zu vermeiden. "Verhindern wird man sie sowieso nicht. Damit steigt die Gefahr, dass der Peak im Winter größer wird", sagte der Wissenschaftler, der dem Sachverständigenausschuss zur Beurteilung der Corona-Beschränkungen angehört.
Sein Vorgänger im Ausschuss, Christian Drosten, hält es ebenfalls für unwahrscheinlich, dass es jetzt oder im kommenden Winter wieder zu Engpässen auf den Intensivstationen kommt. Er sieht aber das Problem vieler krankheitsbedingter Ausfälle im Gesundheitssystem und in Unternehmen.
Außerdem befalle BA.5 möglicherweise wieder stärker die tieferen Atemwege, sagte er dem "Spiegel". "Das Rad dreht sich wieder mehr in Richtung Krankheit." Es stimme nicht, dass ein Virus im Laufe der Evolution automatisch immer harmloser werde. Drosten warnt davor, sich mutwillig zu infizieren. "Man sollte das weiterhin so gut es geht vermeiden, auch wegen des Risikos von Long Covid."
BA.5 könnte etwas gefährlicher sein
Bei der Möglichkeit, dass BA.5 wieder gefährlicher sein könnte, bezieht sich Drosten vermutlich wie andere Wissenschaftler auf eine japanische Studie (Preprint). Laborexperimente mit Hamstern führten zu dem Ergebnis, dass die Subvarianten BA.5 oder BA.4 wieder pathogener sein könnten, also wieder schwerere Krankheitsverläufe hervorrufen als BA.1 oder BA.2.
Mutationen an Schlüsselstellen im Spike-Protein von BA.4 und BA.5 deuteten darauf hin, dass wieder mehr Lungenzellen infiziert und damit schwerere Verläufe hervorgerufen werden könnten, heißt es in der Zusammenfassung des NDR-Corona-Podcasts mit Sandra Ciesek. "Ich halte es für möglich, dass BA.5 wieder etwas pathogener sein könnte, aber das ist abschließend nicht geklärt", sagte die Virologin.
Ein Hinweis, aber auch kein Beweis, für eine stärkere Belastung der Lunge durch BA.5 sind Beobachtungen des Pneumologen Cihan Çelik. "Aktueller Eindruck von Covid-Normalstation (nicht repräsentativ): Betten füllen sich wieder und die Krankheitslast steigt deutlich", twitterte er. "Fast alle Patienten hier brauchen Sauerstoff, das war vor 4 Wochen selten geworden. Wir kommen zurecht, das ist aber nicht nur eine 'Meldewelle'."
Risiko sehr unangenehmer Symptome höher
Auch wenn die neuen Subvarianten nicht tödlicher sind, können sie aber offenbar wesentlich unangenehmere Folgen als BA.1 und BA.2 haben. Dafür sprechen Erkenntnisse der französischen Gesundheitsbehörde. Demnach ist die Wahrscheinlichkeit, dass Geruchs- und Geschmacksverlust, Übelkeit/Erbrechen und Durchfall auftreten, bei BA.4/BA.5 höher als bei den Vorgängern. Infizierte berichteten außerdem über eine längere Dauer der klinischen Symptome.
Auch Genesene sollten die Sommerwelle nicht zu sehr auf die leichte Schulter nehmen und eine erneute Ansteckung vielleicht besser vermeiden. Eine aktuelle US-Studie (Preprint) bestätigt die Vermutung, dass Reinfektionen zwar die Immunität verbessern können, aber immer ein gewisses Risiko schwerer Symptome bleibt.
Nicht harmlos, aber schwer zu vermeiden
Die Gefahr, an Long Covid zu erkranken, kann bei BA.5 noch nicht wirklich bestimmt werden, aber man kann davon ausgehen, dass es auch hier zumindest ein Restrisiko gibt. Einer aktuellen britischen Studie zufolge leiden 4,4 Prozent der bisherigen Omikron-Fälle an Langzeitfolgen, bei Delta waren es mit 10,8 Prozent noch deutlich mehr. Gesellschaftlich ist das trotzdem ein großes Problem, da die Zahl der Long-Covid-Patienten durch die schiere Masse der Omikron-Infektionen sehr groß werden kann.
Eine Infektion mit BA.4 oder BA.5 zu vermeiden, ist allerdings alles andere als einfach, wie eine weitere kürzlich veröffentlichte US-Studie (Preprint) zeigt. Die gewonnenen Daten ergäben, dass "BA.4 und BA.5 im Wesentlichen neutralisierenden Antikörpern entgehen, die sowohl durch Impfung als auch durch Infektion induziert werden", schreiben die Autoren. Außerdem seien die neutralisierenden Antikörpertiter gegen BA.4/5 und niedriger als die Titer gegen BA.1 und BA.2.
Quelle: ntv.de