Panorama

"Holt mich raus, ich tue alles" Erdbeben stürzt Tausende Kinder ins Leid

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Im türkischen Gaziantep konnten eineinhalbjährige Zwillinge und ihre Eltern lebend geborgen werden.

(Foto: picture alliance / AA)

Nach dem schweren Beben in der türkisch-syrischen Grenzregion harren noch immer Hunderte Familien in den Trümmern aus. Die Zahl der Todesopfer steigt derweil stündlich - unter ihnen auch viele Kinder. Die Geschichten einzelner lassen das Ausmaß der Schicksalsschläge für die Kleinsten nur erahnen.

Türkische Medien nennen es eine "Jahrhundertkatastrophe". Am frühen Montagmorgen reißt ein Erdbeben der Stärke 7,8 Tausende Menschen im Südosten der Türkei und in Syrien aus dem Schlaf - es war eines der stärksten Beben, das jemals in der Türkei gemessen wurde. Seitdem arbeiten die Länder im Krisenmodus: Mit internationaler Hilfe versuchen syrische und türkische Rettungskräfte, Überlebende aus den Trümmern zu ziehen. Allerdings läuft ihnen die Zeit davon, denn laut Experten kommt es bei der Bergung nach einem Beben vor allem auf die ersten 72 Stunden an. Noch sind diese nicht um - für viele kommt die Hilfe jedoch schon jetzt zu spät.

So stieg die Zahl der Todesopfer zuletzt auf über 11.000. Rund 8500 Menschen starben alleine in der Türkei - Syrien zählt rund 2700 Todesopfer. Zehntausende wurden zudem verletzt. Retter vermuten, dass die Trümmer noch Hunderte Familien unter sich begraben haben: Mütter, Väter - und viele Kinder.

Das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen kann die Zahl der getöteten Kinder noch nicht genau beziffern, geht allerdings von Tausenden aus. "Es ist unwahrscheinlich, dass ein einziges Kind in den vom Erdbeben verwüsteten Gebieten unversehrt geblieben ist, weder physisch noch psychisch", sagte Joe English von der UN-Kinderhilfsorganisation UNICEF zu der "New York Times". Die Bilder von kleinen Kindern - erschüttert, zerzaust und am ganzen Körper mit Staub bedeckt - gehen um die Welt. "Rettungskräfte versuchen verzweifelt, sie mit ihren Angehörigen zusammenzubringen", schreibt die US-amerikanische Zeitung. In vielen Gebieten versuchen Rettungskräfte und Bewohner, Kinder mit bloßen Händen auszugraben.

"Herzschmerz nach Herzschmerz"

So wie die kleine Noah in der Region Aleppo. "Habe keine Angst, dein Vater ist auch hier", sagt ein Retter zu dem mit Staub übersäten Mädchen, als er es unter den Armen packt und aus den Trümmern eines eingestürzten Gebäudes zieht. Die Unterstützung der Menschen in Syrien ist besonders schwer, die Menschen leben seit Jahren im Bürgerkrieg. Schon vor dem Beben waren laut den Vereinten Nationen 70 Prozent der syrischen Bevölkerung auf humanitäre Hilfe angewiesen. "Es ist ein Trauma nach dem anderen, es ist Herzschmerz nach Herzschmerz", fasste es Englisch von UNICEF gegenüber der "New York Times" zusammen.

Während Noah in die Arme ihres Vaters übergeben wurde, haben andere Kinder aus Syrien oder der Türkei Familienmitglieder an das Beben verloren. Wieder andere sind die einzigen Überlebenden ihrer Familie. So gingen die Bilder eines Neugeborenen aus dem Nordwesten Syriens um die Welt. Das kleine Mädchen wurde etwa sieben Stunden nach dem Erdbeben im Ort Dschandairis in der Region Afrin geboren. Als ein Retter es aus den Trümmern zog, war es noch durch die Nabelschnur mit seiner Mutter verbunden.

Diese wird das kleine Mädchen jedoch niemals kennenlernen, denn ihre Mutter überlebte das Beben nicht. Auch ihr Vater, drei Schwestern und ihr Bruder konnten nur noch tot aus den Trümmern geborgen werden. Das Mädchen wird in ein Krankenhaus gebracht, wo es den Namen Aja bekommt. Als einziges Familienmitglied überlebte die kleine Aja die Katastrophe. In den sozialen Medien wird Aja als "Wunderkind bezeichnet". Denn ihr Arzt machte gegenüber dem ZDF klar: "Nur eine Stunde länger und es wäre gestorben."

Miriam und Ilaaf - nach 36 Stunden gerettet

Ajas Fall macht deutlich, wie wichtig der Faktor Zeit bei der Rettung der Verschütteten ist. Mit jeder Stunde, Minute, gar Sekunde schwindet ihre Kraft unter dem Beton ein wenig mehr. Auch die kleine Miriam aus Nordsyrien hätte es kaum länger unter dem Schutt des Kinderheims in Besnaya-Bseineh ausgehalten, wie der US-amerikanische Sender CNN berichtet. "Holt mich hier raus, ich tue alles für euch", flüstert sie jenen Menschen zu, die sie und ihren kleinen Bruder Ilaaf versuchen zu retten. "Ich werde eure Dienerin sein", fügt sie verzweifelt hinzu. "Nein, nein", entgegnet ihr der Mann, der die Geschwister wenig später aus den Trümmern zog.

36 Stunden waren Miriam und Ilaaf verschüttet. Die ganze Zeit über hatte das Mädchen versucht, das Gesicht ihres kleinen Bruders vor Staub zu schützen. "Wir blieben zwei Tage unter Trümmern", berichtete ihr Vater Mustafa Zuhir Al-Sayed dem Sender. "Wir machten ein Gefühl durch, ein Gefühl, das hoffentlich niemand mehr erleben muss."

Für viele ist das Erlebte kaum zu verarbeiten. So filmte sich ein Jugendlicher im syrischen Krisengebiet selbst, als er in die Kamera sagte, er wisse nicht, wie er seine Gefühle beschreiben soll, da er nicht wisse, ob er leben oder sterben werde. "Mehr als zwei, drei Familien sitzen fest, man hört ihre Schreie und unsere Nachbarn, Gott helfe uns", zitiert die "New York Times" den Jungen.

Retter ziehen Zweijährigen aus Trümmern

Auch in der Türkei sitzt der Schock über den Verlust geliebter Menschen tief. Das Leid von Mesut Hancer aus dem türkischen Kahramanmaras wird in einem mittlerweile weltberühmten Foto deutlich: Hancer, gekleidet in eine signalfarbene Jacke, kauert auf den Trümmern eines Wohnhauses. In der linken Hand hält er die Hand seiner toten Tochter Irmakleyla, die aus einem Betonblock herausragt. Die 15-Jährige liegt auf einer Matratze - das Beben überraschte auch sie im Schlaf.

Kahramanmaras liegt im Epizentrum des Bebens, die türkische Nachrichtenagentur "Anadolu" berichtet im Minutentakt über die Rettungsmissionen in der Umgebung. So gelang es Rettern vor Kurzem, den zweijährigen Mikail aus dem Schutt zu ziehen. Die dunklen Haare des kleinen Jungen sind vollständig in weißen Staub gehüllt. Dem Beton entkommen, wird das Kind sofort in eine Decke gehüllt. 43 Stunden lang war Mikail verschüttet. Nicht weit entfernt, in Elbistan, musste ein zwei Monate altes Baby genauso lange unter dem Schutt ausharren. "Die jüngste bisher gerettete Person nuckelte an seinem Daumen, als die Retter ihn in eine Decke wickelten", schreibt "Anadolu" zu einem Video, das die Rettung zeigt. Der Säugling hat die Katastrophe überlebt - ebenso wie seine Mutter.

Noch gelingt es den mutigen Rettungskräften immer wieder, Menschen lebend aus den Ruinen zu ziehen. Viele dieser Überlebenden haben ihr schützendes Zuhause jedoch durch die Erschütterung verloren, andere können es wegen der Einsturzgefahr kaum betreten. Trotz Eiseskälte bleibt ihnen also nichts anderes übrig, als im Freien zu schlafen. "Wir haben kein Zelt, wir haben keinen Heizofen, wir haben gar nichts", berichtet Aysan Kurt dem "Guardian". Der 27-Jährige und seine Kinder haben die einstürzenden Gebäude zwar überlebt. In Gefahr hat sie die Katastrophe trotzdem gebracht. "Wir sind nicht an Hunger oder dem Erdbeben gestorben, aber wir werden an der Kälte sterben."

Quelle: ntv.de

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