Sieben Jahre Notunterkunft Geflohene Ostukrainer fürchten neue Invasion
14.02.2022, 09:20 Uhr (aktualisiert)
Die 2014 zur Verfügung gestellten Notunterkünfte werden teilweise noch immer bewohnt.
(Foto: picture alliance / photothek)
Seit der Krim-Krise im Jahr 2014 erfasst Kiew 1,5 Millionen Binnenvertriebene. Einige Geflüchtete wie Ludmyla Bobowa leben seitdem in mittlerweile maroden Wohncontainern. Die 59-Jährige hofft, bald in eine richtige Wohnung ziehen zu können - falls sie nicht bald erneut vor einer russischen Invasion fliehen muss.
Es war Sommer 2014, als Ludmyla Bobowa Hals über Kopf vor dem Krieg in der Ostukraine floh. Nie hätte sie gedacht, dass sie fast acht Jahre später immer noch weit weg von zu Hause in einer Notunterkunft wohnen würde. Hunderttausende Ukrainer wurden damals vertrieben. Eskaliert der Konflikt mit Russland, droht Millionen weiteren das gleiche Schicksal.
"Wir haben uns daran gewöhnt, hier zu leben, wir haben keine andere Wahl", sagt Bobowa. Die 59-Jährige lebt mit ihrem behinderten Mann und ihrer Mutter in weißen Wohncontainern in Charkiw, der zweitgrößten Stadt der Ukraine. Ihre Heimat ist die Region Lugansk. Als dort 2014 die Kämpfe zwischen den von Russland unterstützten Separatisten und den ukrainischen Streitkräften begannen, packte Bobowa hastig zwei Taschen und machte sich auf nach Charkiw.
Größte Sorge ist erneute Flucht
"Wir wollten überleben, also sind wir geflohen", sagt sie. Für Vertriebene wie sie wurde in Charkiw mit deutscher Unterstützung Anfang 2015 eine Notunterkunft gebaut, die Platz für 500 Menschen bietet. Eigentlich war die Anlage nur als vorübergehende Lösung geplant. Doch 175 Menschen, unter ihnen 70 Kinder, wohnen noch immer in den inzwischen marode gewordenen Containern. Die Wasserhähne sind kaputt und die Boiler fallen immer wieder aus.
Ludmila Bobowa hofft, dass sie bald in eine richtige Wohnung in Charkiv umziehen kann. Zurück nach Lugansk, wo ihr Sohn begraben liegt, will sie nicht. Ihr Haus liegt jenseits der Frontlinie in dem von den Separatisten kontrollierten Gebiet. Bobowas größte Sorge ist, erneut fliehen zu müssen. Charkiw liegt nur 40 Kilometer von der russischen Grenze entfernt, an der Moskau nach westlichen Angaben mehr als 100.000 Soldaten zusammengezogen hat. Die Furcht vor einer Invasion ist groß.
Seit der Annexion der Krim durch Russland und dem Beginn des Krieges im Osten der Ukraine 2014 registrierte Kiew rund 1,5 Millionen Vertriebene, 135.000 von ihnen leben in Charkiw. Sollte Russland in die Ukraine einmarschieren, könnten bis zu zwei Millionen weitere Menschen zur Flucht gezwungen sein, warnt der norwegische Flüchtlingsrat.
"Wir werden nicht weggehen"
Die Aktivistin Jewgenia Lewenschtein erinnert sich, wie 2014 Hunderte Vertriebene, "weinende Familien mit Kindern aus den bombardierten Gebieten" am Bahnhof von Charkiw ankamen. Ihre Hilfsorganisation bot ihnen Unterkunft und versorgte sie mit dem Nötigsten. Angesichts der drohenden Invasion bereitet sich die Organisation auf die Ankunft neuer Flüchtlinge vor. Kleinbusse werden repariert, Treibstoffvorräte angelegt, Lebensmittel und Hygieneartikel bestellt.
Einige der Vertriebenen von 2014 sind in ihre Heimat in die selbst erklärten separatistischen Republiken zurückgekehrt, obwohl der Konflikt dort weiter schwelt. "Die anderen haben Charkiw für ihr neues Leben gewählt und sind bereit, zu bleiben und es zu verteidigen", sagt Lewenschtein.
Zum Beispiel Olga Todorowa, der immer noch Tränen in die Augen schießen, wenn sie erzählt, wie sie mit dem Zug aus Lugansk floh. Die 53 Jahre alte Journalistin lebt in einem Zimmer in einem alten Haus aus der Sowjetzeit am Stadtrand von Charkiw. Sie habe sich bereits entschieden, was sie im Falle eines russischen Angriffs tun würde, sagt sie. "Ich weiß, wie beängstigend die russischen Bombardements und Raketen sind, aber wir werden nicht weggehen." Ihr Partner Sergej Kolesnyschenko ist bereit, gegen die russischen Soldaten zu kämpfen. "Wir könnten weglaufen", sagt er. "Aber was nützt das?"
(Dieser Artikel wurde am Samstag, 12. Februar 2022 erstmals veröffentlicht.)
Quelle: ntv.de, Germain Moyon, AFP