Panorama

"Habt ihr uns vergessen?" Einsamkeit und Hass während eines Luftangriffs auf Odessa

00:00
Diese Audioversion wurde künstlich generiert. Mehr Infos
Das war mal eine Zuhause ...

Das war mal eine Zuhause ...

(Foto: IMAGO/ZUMA Wire)

In der Ukraine hat man sich an Luftangriffe gewöhnt, sagt Sergey Panashchuk, ukrainischer Journalist. Kann man sich daran überhaupt gewöhnen? Die Angst, vergessen zu werden - oder zu sterben - beschreibt er für ntv.de.

Es ist drei Uhr morgens. Ich befinde mich im Badezimmer und spüre, wie die Fenster meiner Wohnung zittern. Gerade gab es einen ohrenbetäubenden Knall. Später werde ich es sehen - ein Museum russischer Raketen, nur 500 Meter von meinem Wohnort entfernt, wurde getroffen. Alltag in Odessa.

Wir haben uns an ständige Luftangriffe gewöhnt - sie treffen die Stadt mindestens dreimal pro Woche. Wir alle dachten, Putin würde niemals das geliebte Stadtzentrum bombardieren. Doch das hat er getan. Das Getreideabkommen endete, und plötzlich landeten Bomben nur wenige hundert Meter von meiner Wohnung entfernt. Wie wirkt sich das auf uns aus? Schrecklich.

Zunächst dachten wir, Europa stünde hinter uns, die USA seien auf unserer Seite - es gab weltweite Demonstrationen gegen den Krieg. Aber neuerdings denken wir nur noch: Alle haben uns im Stich gelassen. Die Ukraine wird behandelt wie ein komatöser Patient - zu viel zum Sterben, zu wenige, um zu überleben.

Einsamkeit

Hier in Odessa fühlt sich jeder als Ukrainer, egal, welche Sprache wir sprechen. Wir debattieren heftig, wie willkürlich das Rekrutierungssystem geworden ist. Aber, und das ist der markante Unterschied zu einer Diktatur: In der Ukraine werden solche Dinge debattiert. Öffentlich. Wenn man nicht, wie ich gerade, im Badezimmer hockt, um einen Bombenangriff zu überstehen. Habe ich Angst? Aktuell ja. Werde ich mich daran gewöhnen? Man tut so, nicht nur ich.

Das Bücherregal steht noch ...

Das Bücherregal steht noch ...

(Foto: IMAGO/ZUMA Wire)

In Odessa gehen wir sehr professionell unserem Alltag nach: Abends in Restaurants sieht man Menschen lachen, sich schick machen, viel Wert auf ihr Äußeres legen. Tagsüber gehen wir unseren Jobs nach - wenn wir welche haben. Wir bekommen Strafen für falsches Parken und hoffen, dass unsere Kinder rechtzeitig in den Luftschutzbunker gelangen. Jeder von uns ist, je nach individueller Belastbarkeit, traumatisiert. Auch ich.

Als der Krieg begann, dachte ich, er würde schnell enden. Jetzt verhärten sich die Fronten. Wir sprechen darüber, was der tägliche Terror mit uns macht. Es ist eine Erleichterung, nicht allein zu sein, aber es ändert nichts. Es gibt kein festes Datum, an dem wir sagen können: Dann wird es vorbei sein.

Trauma

Mein persönliches Trauma liegt zwischen Depression und Hyperaktivität. Ich hatte es geschafft, mir international einen Namen als Journalist zu machen. Ich arbeitete in Deutschland für verschiedene britische Zeitungen - sogar während des Krieges. Doch plötzlich saß ich vor meinem Computer und wusste nicht, was ich schreiben sollte, wegen der allgemeinen Angst und der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS), die ich aus dem Krieg habe. Es ist es schwer, sich zu konzentrieren.

Es gibt keine Unterstützung der ukrainischen Regierung für Journalisten. Und die durchschnittliche Bezahlung in lokalen Medien beträgt 200 Euro - das deckt nicht einmal die Ausgaben für Miete und die Lebensmittel. Und die Arbeitslosenquote ist enorm hoch.

Wie bezahle ich also die Miete? Wie komme ich an Essen? Ausländische Medien entscheiden sich für den einfachsten Weg. Es gibt ausländische Journalisten, sogenannte Stringer, die Netzwerke haben, in denen der Journalist aktiv ist. Sie werden pro Tag für den Job bezahlt. Ich habe das auch gemacht, als ich die Gelegenheit dazu hatte. Jetzt gehe ich sogar ohne Bezahlung an die Frontlinien. Im Grunde riskiere ich mein Leben für die Wahrheit.

Hass

Ich bin oft an der Front. Ich spreche mit Soldaten und sehe, wie sie monatelang in ihren Stellungen feststecken, im Schlamm schlafen. Ich erlebe die Zunahme der Gewalt unter ihnen. Verständlich. Wenn der Job darin besteht, zu töten, wird Gewalt zur Routine.

"Ich möchte nicht töten." "Ich möchte nicht getötet werden."

"Ich möchte nicht töten." "Ich möchte nicht getötet werden."

(Foto: Sergey Panashchuk)

Ich möchte nicht töten. Vor allem möchte ich nicht getötet werden. Ich möchte nicht töten, obwohl ich die Russen hasse. Ja, du hast richtig gelesen: Hass. Ich kann nicht mehr zwischen dem einzelnen Russen, der ein guter Mensch sein mag, und einem Land, das uns angegriffen hat, unterscheiden. Mit einer Armee von Sadisten. Weil sie alle als Nation Putin als ihren Führer gewählt haben.

Es gibt den Gedanken, dass der Vollkrieg in der Ukraine nur wegen Putin passiert. Aber es ist nicht Putin, der direkt die Knöpfe drückt und Raketen schickt, um zivile Gebäude zu zerstören, Putin hat keine Kinder und Frauen in Bucha vergewaltigt, und Putin hat nicht den Kachowka-Damm gesprengt. Russen haben das getan.

Sprache

Odessa ist eine Multikulti-Stadt: Juden, Ukrainer, Russen, Griechen lebten hier in Frieden. Die meisten Menschen sprachen Russisch, bevor der Krieg begann. Viele Menschen sind auf Ukrainisch umgestiegen, ich bin zweisprachig von Geburt an, weil mein Vater aus der Westukraine stammt. Aber trotzdem ist Russisch eine meiner Muttersprachen. Und ich kann Ihnen versichern, dass hier niemand wegen des Sprechens von Russisch belästigt wird, tatsächlich sprechen viele Soldaten Russisch. Aber die Sprache, die man spricht, und die nationale Identität ist nicht dasselbe. Wir alle sind Ukrainer, egal, welche Sprache wir sprechen.

Wir werden von Russland überfallen, aber wir Ukrainer in Odessa sprechen Russisch, um darüber zu sprechen, was der Feind uns antut. Das führt uns zurück zum Thema Trauma. Und ein Teil davon besteht darin, darüber hinwegzusehen. Ich versuche es auch. Schwierige Zeiten.

Das Richtige

Englisch ist keine Stärke der Ukrainer. Ich spreche und schreibe es sehr gut, und es hat mich weit gebracht. Ich war während des Bruchs des Kachowka-Staudamms Freiwilliger. Ich habe Menschen aus den Überschwemmungsgebieten gerettet und meinen Beitrag dazu geleistet, Hunde zu retten, die im Wasser trieben. All dies während des Artilleriebeschusses nur hundert Meter von mir entfernt und mit russischen Drohnen, die über mir flogen und Granaten auf mich warfen. Aber obwohl ich Angst hatte, fühlte ich, dass ich das Richtige tat.

Als ich nach Odessa zurückkehrte, konnte ich mich nicht an die Stille gewöhnen, eine Stille, die auch nur relativ ist. In derselben Nacht noch wurden wir heftig bombardiert. Ich hörte das zersplitternde Glas und die Menschen schreien. Ich sehnte mich nach der Ruhe, auch wenn sie relativ ist.

Was nützen mir Anerkennung und Dankbarkeit, wenn mein Kühlschrank oft leer ist, die Miete unbezahlt? Ich weiß immer noch nicht, was als Nächstes kommt. Doch sitze ich mit meinen Freunden an einem Tisch und mache mein tapferstes Gesicht. Sie denken vielleicht, ich sei immer noch ein erfolgreicher Journalist.

Einsamkeit

Anerkennung, die guttut, aber nichts ändert und nicht nachhaltig ist. Letztendlich bin ich wieder allein im Badezimmer, weil man sich an die Regeln der zwei Wände halten muss, sie sollen dich vor den Glassplittern retten, wenn die Explosion in deiner Nähe ist. Man hört das Jammen draußen, durch die Fenster, dennoch. Am Morgen mache ich mir einen Tee. Ich habe einen weiteren Tag überlebt. Von der restlichen Welt vergessen.

Übersetzt von Sabine Oelmann

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen