"Ukraine wie ein Koma-Patient" Zu viel Hilfe, um zu sterben, zu wenig zum Leben


Mit Tölke nahe Mikolayiw schnell eine Portion Schaschlik essen - ein Hauch Normalität für Sergey.
(Foto: Sergey Panashchuk)
Bomben, die in unmittelbarer Umgebung explodieren, Fenster, die splittern, Museen, die kaputt, Träume, die zerstört sind - Sergey, ein ukrainischer Journalist, erzählt davon: Wie er Schutz im Badezimmer findet, nicht mehr arbeiten kann, und davon, wie einsam so ein Krieg macht.
Es ist drei Uhr morgens. Ich suche Schutz im Badezimmer und höre, wie die Fenster meiner Wohnung klirren. Ein ohrenbetäubender Knall! Am nächsten Morgen werde ich es sehen - ein Museum, zerstört von russischen Raketen, nur 500 Meter von meiner Wohnung entfernt.
Alltag in Odessa? Eher nicht. Wir haben uns zwar an ständige Luftalarme gewöhnt - sie hallen mindestens dreimal pro Woche durch die Stadt - aber wir alle dachten, Putin würde niemals sein geliebtes Stadtzentrum bombardieren. Doch er tut es. Sobald das Getreideabkommen endete, landeten Bomben nur wenige hundert Meter von meiner Wohnung entfernt. Wie wirkt sich das auf uns, die dort leben, aus? Es ist einfach der Horror. Zunächst dachten wir, Europa stünde hinter uns, die USA seien auf unserer Seite - es gab weltweite Demonstrationen gegen den Krieg. Aber neuerdings denken wir nur noch: Alle haben uns im Stich gelassen. Die Ukraine wird behandelt wie ein Koma-Patient: Es ist ihr nicht erlaubt zu sterben, aber sie wird auch nicht so unterstützt, dass sie wieder leben kann.
Einsamkeit - Angst
Hier in Odessa fühlt sich jeder als Ukrainer, egal in welcher Sprache wir sprechen. Wir debattieren heftig, wie willkürlich das Rekrutierungssystem geworden ist. Aber, und das ist der markante Unterschied zu einer Diktatur: In der Ukraine werden solche Dinge debattiert. Öffentlich. Wenn man nicht wie ich gerade allein im Badezimmer hockt, um einen Bombenangriff zu überleben.
Habe ich Angst? Aktuell ja. Werde ich mich daran gewöhnen? Ich tue zumindest so. In Odessa gehen wir professionell unserem Alltag nach. Abends in Restaurants sieht man Menschen lachen, sich schick machen, viel Wert auf ihr Äußeres legen. Tagsüber sind wir bei unseren Jobs - wenn wir noch welche haben. Wir bekommen Strafen für falsches Parken und hoffen, dass unsere Kinder bei Alarm während der Schulzeit rechtzeitig in den Luftschutzbunker gelangen. Jeder von uns ist, je nach individueller Belastbarkeit, traumatisiert. Auch ich. Als der Krieg begann, dachte ich, er würde schnell enden. Jetzt verhärten sich die Fronten. Wir sprechen darüber, was der tägliche Terror mit uns macht. Es ist eine Erleichterung, nicht allein zu sein, aber es ändert nichts. Die Endlosigkeit, dieses Ausweglose, es macht mürbe. Es gibt nun mal kein festes Datum, an dem wir sagen können: Dann wird es vorbei sein.
Depression - Hyperaktivität
Mein persönliches Trauma liegt zwischen Depression und Hyperaktivität. Ich hatte es geschafft, mir international als Journalist einen Namen zu machen: Ich arbeitete in Deutschland für das Katapult Magazin, für verschiedene britische Zeitungen - vor und sogar noch während des Krieges.
Doch plötzlich saß ich vor meinem Computer und wusste nicht, was ich schreiben sollte. Meine Angst und eine posttraumatische Belastungsstörung, die ich aus dem Krieg habe, lähmten mich, lähmen mich noch immer. Es gibt keine Unterstützung der ukrainischen Regierung für Journalisten. Und die durchschnittliche Bezahlung in lokalen Medien beträgt momentan 200 Euro im Monat. Das deckt nicht einmal die Miete und die Lebensmittel. Die Arbeitslosenquote, auch unter meinen Kollegen, ist enorm hoch.
Wie bezahle ich also die Miete? Wie komme ich an Essen? Ausländische Medien entscheiden sich für den einfachsten Weg mit eigenen Teams. Es gibt ausländische Journalisten, die sogenannte Fixer einsetzten. Fixer, die Netzwerke haben, in den Bereichen, in denen der Journalist aktiv ist. Sie werden pro Tag für den Job bezahlt. Ich habe das auch gemacht, als ich die Gelegenheit dazu hatte. Für ein Taschengeld.
Leben - Wahrheit
Jetzt gehe ich sogar ohne Bezahlung an die Frontlinien. Im Grunde riskiere ich mein Leben für die Wahrheit. Ich bin oft an der Front. Ich spreche mit Soldaten und sehe, wie sie monatelang in ihren Positionen feststecken, im Schlamm schlafen. Ich erlebe den Anstieg der Gewalt unter ihnen. Verständlich. Wenn der Job darin besteht, zu töten, wird Gewalt zur Routine.
Ich möchte nicht töten. Vor allem möchte ich nicht getötet werden. Ich möchte nicht töten, obwohl ich die Russen hasse. Ja, richtig gelesen: Hasse. Ich kann nicht mehr zwischen dem einzelnen Russen, der ein guter Mensch sein mag, und einem Land, das uns angegriffen hat, unterscheiden. Mit einer Armee von Sadisten. Alle Russen lassen zu, dass Putin ihr Führer ist.
Es gibt den Gedanken, dass der Angriff auf die gesamte Ukraine nur wegen Putin passierte. Aber es ist nicht Putin, der die Knöpfe drückt und Raketen schickt, um zivile Gebäude zu zerstören, Putin hat keine Kinder und Frauen in Bucha vergewaltigt, und Putin hat nicht den Kachowka-Damm gesprengt. Russen haben das getan.
Odessa ist eine multinationale Stadt, Juden, orthodoxe Christen, Muslime, Ukrainer, Russen und Griechen lebten hier in Frieden, weil wir wissen, wie man Geschäfte macht. Die meisten sprachen Russisch, bevor der Krieg im Februar 2023 "so richtig" begann. Viele Menschen sind auf Ukrainisch umgestiegen. Ich bin zweisprachig von Geburt an, weil mein Vater aus der Westukraine stammt. Aber trotzdem ist Russisch eine meiner Muttersprachen. Und ich kann versichern, dass niemand wegen des Sprechens von Russisch gemobbt wird. Tatsächlich sprechen viele ukrainische Soldaten russisch. Aber die Sprache, die man spricht, und die nationale Identität, das ist nicht dasselbe. Wir alle sind Ukrainer, egal in welcher Sprache wir sprechen. Wir werden von Russland überfallen, aber wir Ukrainer in Odessa sprechen Russisch, um darüber zu sprechen, was der Feind uns antut.
Trauma - Verdrängung
Das führt zurück zum Thema Trauma. Und mit einem Trauma im Alltag umzugehen, bedeutet auch, es zu ignorieren. Auch ich versuche zu verdrängen. Schwierige Zeiten. Englisch ist keine Stärke der Ukrainer. Ich spreche und schreibe es sehr gut, bin Autodidakt. Das hat mich weit gebracht, ich bin, wie gesagt, für britische Medien wie die "Daily Mail" und "The Sun" freiberuflich tätig.
Aber ich war während des Bruchs des Kachowka-Damms auch Freiwilliger: Ich habe Menschen aus den Überschwemmungsgebieten gerettet und meinen Beitrag dazu geleistet, Tiere zu retten, die im Wasser ertrunken wären. All dies während des Artilleriebeschusses nur hundert Meter von mir entfernt und mit russischen Drohnen, die über mir flogen und Granaten auf mich warfen. Aber obwohl ich Angst hatte, fühlte ich, dass ich das Richtige tat.
Als ich nach Odessa zurückkehrte, konnte ich mich nicht an die relative Stille gewöhnen, noch in derselben Nacht wurden wir heftig bombardiert. Ich hörte das zersplitternde Glas, und ich hörte die Menschen schreien.
Tapferkeit - Erfolg
Ich bekam Anerkennung für das, was ich schrieb, in den westlichen Medien. Aber trotzdem ist mein Kühlschrank oft leer, die Miete nicht bezahlt - ich weiß immer noch nicht, was als Nächstes kommt. Dennoch sitze ich mit meinen Freunden zusammen und zeige mein tapferstes Gesicht; sie denken, ich sei immer noch ein erfolgreicher Journalist. Und ja, Anerkennung ist etwas, das guttut, aber sie ändert nichts und ist nicht nachhaltig.
Letztendlich bin ich wieder allein im Badezimmer, weil man sich an die "Regel der zwei Wände" halten muss: Sie sollen dich vor den Glassplittern retten, wenn die Explosion in deiner Nähe ist. Und man hört das Klirren der Fenster draußen. Am Morgen mache ich mir einen Tee. Ich habe einen weiteren Tag überlebt. Von der restlichen Welt vergessen.
Quelle: ntv.de