"Countdown zur Katastrophe" Millionen Afghanen droht der Hungertod
25.10.2021, 16:11 Uhr
Bis Ende des Jahres dürften in Afghanistan 3,2 Millionen Kinder unter fünf Jahren an akuter Unterernährung leiden.
(Foto: picture alliance/dpa/World Food Programm WFP)
Anhaltende Dürre, Wirtschaftskrise, steigende Lebensmittelpreise: Seitdem die Taliban in Afghanistan wieder an der Macht sind, muss ein großer Teil der Bevölkerung Hunger leiden. Hilfsorganisationen sind alarmiert. Die UN müsste Mittel in noch nie dagewesener Höhe mobilisieren, um den Bedarf zu decken.
In Afghanistan spitzt sich die Hungerkrise dramatisch zu. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung des Landes wird ab November nicht ausreichend zu essen haben. Das geht aus einem Bericht der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation (FAO) und dem Welternährungsprogramm (WFP) der Vereinten Nationen hervor.
Mit 22,8 Millionen Menschen bei geschätzten 37 Millionen Einwohnern bedeutet das einen traurigen Rekord. Bereits im September und Oktober erlebten fast 19 Millionen Afghanen ein hohes Maß an akuter Ernährungsunsicherheit. Das bedeutet einen Anstieg von fast 30 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum. Gründe für den Anstieg sind die anhaltende Dürre, der Zusammenbruch öffentlicher Dienstleistungen, eine schwere Wirtschaftskrise und steigende Lebensmittelpreise in dem Land.
Die militant-islamistischen Taliban hatten nach Beginn des Abzugs der internationalen Nato-Truppen weite Teile Afghanistans erobert. Am 15. August zogen sie kampflos in die Hauptstadt Kabul ein und regieren seitdem. Internationale Hilfs- und Entwicklungsgelder wurden seither zu einem großen Teil eingestellt, im Ausland geparkte Reserven der afghanischen Zentralbank eingefroren. Gehälter von Lehrern oder Beamten werden seit mehreren Monaten nicht bezahlt. Die Vereinten Nationen rufen zu schnellen Hilfen auf, da sich in dem Land eine der größten Ernährungskrisen der Welt entwickelt.
Im weltweiten Vergleich ist Afghanistan sowohl in absoluten als auch in relativen Zahlen eines der Länder, in dem die meisten Menschen von Hunger bedroht sind. "Es geht um Leben und Tod. Wir können nicht warten und zusehen, wie sich humanitäre Katastrophen vor unseren Augen entfalten - das ist inakzeptabel", kommentierte der FAO-Generaldirektor Qu Dongyu den Bericht.
Wahl zwischen Hunger und Migration
Um das Ausmaß des Bedarfs zu decken, müssen die UN Mittel in noch nie dagewesener Höhe mobilisieren. Der Plan für die humanitäre Hilfe der UN ist nur zu einem Drittel finanziert. Laut David Beasly, Exekutivdirektor des WFP, sind in diesem Winter Millionen Afghanen dazu gezwungen, zwischen Migration und Hunger zu wählen, wenn lebensrettende Hilfe nicht verstärkt und die Wirtschaft nicht wiederbelebt werden könne. "Wir befinden uns auf einem Countdown zur Katastrophe."
Der Bericht zeigt, dass erstmals auch die städtische Bevölkerung in ähnlichem Maße unter Hunger leidet wie ländliche Gebiete. Unter den Gefährdeten sind 3,2 Millionen Kinder unter fünf Jahren, die bis Ende des Jahres an akuter Unterernährung leiden dürften. Die sich zuspitzende Situation führt zu immer größerer Verzweiflung und zu Protestaktionen in dem Land.
In einem auf Facebook häufig geteilten Video filmt ein Afghane fünf Kinder, die in einem Grab liegen. Der Mann kommentiert, während eine Person Erde auf die Jungen schaufelt, dass seine Familie seit einer Woche nichts zu essen habe. "Brüder, es gibt keinen Grund mehr, zu leben. Wir trinken seit einer Woche nur Wasser. Wir haben beschlossen, uns lebendig zu begraben."
Quelle: ntv.de, nfi/dpa