Virginia Giuffres Memoiren "Nobody's Girl" - Erschütternde Erinnerungen einer Nichtüberlebenden
26.10.2025, 09:32 Uhr
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Giuffre arbeitete jahrelang an diesem Buch, so sollte ihr Leiden noch einen gewissen Sinn haben.
(Foto: picture alliance / empics)
Virginia Giuffre ist die Erste, die mit vollem Namen gegen Jeffrey Epstein, Ghislaine Maxwell und mehrere einflussreiche Männer aussagt. Als 16-Jährige gerät sie in deren Fänge und erleidet Unfassbares. Ihre posthum erschienenen Erinnerungen sind kaum zu ertragen.
Am 1. April 2025 schreibt Virginia Giuffre eine E-Mail an ihre Co-Autorin und ihre Presseagentin. Seit Jahren arbeiten sie gemeinsam an Giuffres Erinnerungsbuch. "Ich wende mich an euch, um euch etwas sehr Wichtiges in Bezug auf mein Buch Nobody's Girl mitzuteilen", schreibt Giuffre. "Es ist mein aufrichtiger Wunsch, dieses Werk zu veröffentlichen, und zwar unabhängig von meinen persönlichen Umständen zum Zeitpunkt der Veröffentlichung." Im Oktober ist der Zeitpunkt der Veröffentlichung gekommen, Giuffre erlebt ihn nicht mehr. Wenige Tage nach jener E-Mail nimmt sie sich das Leben.
"Nobody's Girl - Meine Geschichte von Missbrauch und dem Kampf um Gerechtigkeit" ist auf Englisch schon ein Bestseller, die deutsche Ausgabe ist bereits als E-Book erhältlich und wird ab 18. November auch gedruckt im Handel sein. Das Buch ist nun Giuffres Vermächtnis.
Weil sie eine der erbittertsten Anklägerinnen von Jeffrey Epstein und seiner Handlangerin Ghislaine Maxwell war, suchen viele auf den 400 Seiten nach weiteren Enthüllungen über ihn und seine zumeist wohlhabende und mächtige Kundschaft. Tatsächlich gibt es zu dem inzwischen in mehreren Prozessen aufgearbeiteten Tatkomplex im Buch nicht viel Neues. Und trotzdem hat es eine Wucht, die Leserinnen und Leser erschüttert.
Das Ende der Kindheit
Denn Giuffre erzählt zunächst von einer einfachen und glücklichen Kindheit in Loxahatchee, im US-Bundesstaat Florida, wo sie in einer beinahe Pippi-Langstrumpf-Welt aufwächst. Sie liebt Tiere und ihren kleinen Bruder Skydy. Als ihr Vater ihr ein Pferd kauft, ist sie außer sich vor Glück.
Doch kurz nachdem sie zur Schule gekommen ist, ändert sich das Verhalten des Vaters. "An diesem Abend berührte mich mein Vater in meinem Zimmer auf eine Weise, wie mich nie zuvor jemand angefasst hatte. Er erzählte mir, ich sei sein geliebtes kleines Mädchen, sein Liebling, und er zeige mir auf diese Weise, dass er mich 'ganz besonders lieb' habe." Der Missbrauch beginnt und wenn Giuffre versucht zu flüchten, erpresst sie der Vater damit, dass er ihr das Pferd wegnehmen wird. Später droht er ihr, falls sie mit jemandem über den Missbrauch spricht, "er werde meinen kleinen Bruder töten und im Wald begraben, wo ihn niemand finden könne".
Sie bekommt von den sexuellen Übergriffen schwere Harnwegsinfektionen, nässt sich ein und wird dafür gehänselt und bestraft. Ihre Mutter verschließt die Augen vor dem, was geschieht, und distanziert sich von ihr. Mehr noch, auch sie misshandelt die Tochter, indem sie sie mit Rosenzweigen auspeitscht, die Virginia selbst aussuchen muss. Bald gibt der Vater sie an einen Freund weiter. Der Mann wird später wegen des Missbrauchs eines anderen Mädchens verurteilt.
Immer neue Täter und schließlich Epstein
Aus Jenna, wie sie in der Familie genannt wird, dem Mädchen, das gern las und Tierärztin werden wollte, wird ein rebellischer Teenager. Sie will dem Elternhaus und dem Missbrauch entkommen, läuft weg und wird schließlich von ihrer Mutter in ein "Behandlungszentrum" gebracht. Im "Growing Together" setzen sich die Misshandlungen und Demütigungen fort. Sie wird von zwei gleichaltrigen Jungen und später von einem Fremden in einem Auto vergewaltigt, wird magersüchtig und fällt einem weiteren Täter in die Hände. Ron Eppinger lockt sie mit dem Versprechen einer Modelkarriere und verkauft sie dann in seinem Escortservice. "Bald nachdem Eppinger begann, mich an seine Freunde zu verhökern, fühlte ich mich wie ein Welpe, der aus einem Wurf ausgewählt wird und nur hoffen kann, dass sein neues Herrchen kein Tierquäler ist. Ich versuchte einfach nur zu überleben."
Jedes Mal, wenn sie hofft, irgendwo Sicherheit und Ruhe zu finden, muss sie mit sexuellen Diensten bezahlen. Und immer kommt sie von einer Hölle in die nächste. Mit 16 ist sie wieder mal bei ihren Eltern und dieses Mal scheint sich das Blatt zu wenden. Ihr Vater ist inzwischen Haustechniker in Trumps Privatclub Mar-a-Lago in Palm Beach und verschafft auch ihr dort einen Job. Sie kocht Tee und verteilt frische Handtücher. Wenn sie die Masseurinnen im luxuriösen Spa beobachtet, stellt sie sich vor, das könnte ihre Arbeit sein. "Zum ersten Mal in meinem Leben ließ ich zu, dass in mir ein Funken Hoffnung aufkam. Nach allem, was ich durchgemacht hatte, würde ich meine von Misshandlung geprägte Vergangenheit vielleicht endlich hinter mir lassen können."
Wenige Tage später wird Ghislaine Maxwell auf sie aufmerksam und lockt sie mit dem Vorschlag, ein Bekannter suche eine Massagetherapeutin, in das Haus von Jeffrey Epstein. Schon am Tag ihres "Vorstellungsgesprächs" vergewaltigt er Giuffre das erste Mal. Sie ist 16, Epstein 47. "Wenn ein Kind von einem geliebten Menschen missbraucht wird - so wie ich von meinem Vater -, dann gelangt es zu der Überzeugung, dass Liebe und Schmerz, Liebe und Vertrauensbruch, Liebe und Grenzverletzung zusammengehören. Ich wusste nicht, dass Missbrauchsopfer Warnsignale nicht richtig erkennen können, weil sie verletzendem Verhalten gegenüber abgestumpft sind."
Giuffre wusste das nicht, aber Maxwell und Epstein wussten es. "Von Anfang an manipulierten sie mich, sodass ich Verhaltensweisen annahm, die mich innerlich auffraßen, die meinen Realitätssinn untergruben und die es mir unmöglich machten, mich zu wehren. Von Anfang an wurde ich zur Komplizin meiner eigenen Zerstörung gemacht. Von all den furchtbaren Wunden, die sie mir zugefügt haben, war diese erzwungene Komplizenschaft die verheerendste." Mehr als zwei Jahre ist Giuffre in der Gewalt von Epstein und Maxwell, wird für Vergewaltigungen an fremde Männer weitergegeben und dafür um die halbe Welt geflogen. Manchmal stellen sie sie als ihre Tochter vor. Sie sieht andere Mädchen kommen und gehen. Einmal ist sie selbst kurz davor, der Grausamkeit zu entfliehen, da zeigt ihr Epstein ein Bild ihres Bruders Skydy auf dem Weg zur Schule. Danach rekrutiert sie selbst Mädchen für Epstein.
Entkommen, aber nie ganz
Kurz vor ihrem 19. Geburtstag machen Epstein und Maxwell ihr den Vorschlag, ein Kind für die beiden auszutragen. Und sie lassen sie in Thailand eine Masseur-Ausbildung machen. Das ist für Giuffre die Chance, ihrem perfiden System zu entkommen. Sie lernt ihren Mann kennen, bekommt drei Kinder, sagt gegen Epstein und Maxwell aus. Giuffre ist es, die der Welt berichtet, dass der britische Prinz Andrew zu Epsteins Kunden gehörte, weil sie mit ihm Sex haben musste, ebenso wie mit dem MIT-Wissenschaftler Marvin Minsky, dem Model-Scout Jean-Luc Brunel, der sich später ebenso wie Epstein im Gefängnis das Leben nimmt, oder einem ehemaligen Premierminister, dessen Namen sie nicht zu nennen wagt, der sie aber so schwer misshandelte, dass sie fürchtete, er würde sie umbringen.
Doch sie ist ein zutiefst traumatisierter Mensch, versucht immer wieder, eine Heimat zu finden, den Kontakt zu ihren Eltern wiederherzustellen, kämpft mit den Folgen des jahrelangen Missbrauchs. Weil sie als Erste mit vollem Namen aussagt, wird sie Ziel übler Schmutzkampagnen. Immer wieder wird ihr vorgeworfen, sie habe das Geld und den Luxus Epsteins im Austausch gegen die sexuelle Gewalt genossen. Und die in ihrem Buch als liebevoll und unterstützend beschriebene Ehe ist offenbar von häuslicher Gewalt bestimmt. Giuffre feiert trotzdem die Verurteilung von Maxwell und die Entschuldigung, die sie Prinz Andrew abtrotzt.
"Der Inhalt dieses Buches ist wichtig, da es die systematischen Versäumnisse aufzeigt, die den Menschenhandel mit schutzbedürftigen Personen über Landesgrenzen hinweg erst möglich machen", schreibt sie wenige Tage vor ihrem Tod an ihre Co-Autorin und ihre Presseagentin. Und dann zerbricht sie endgültig selbst daran.
Quelle: ntv.de
