"Das sind alles Lügen" Rätsel um verschleppte Studenten aus Mexiko bleibt ungelöst
26.07.2023, 15:34 Uhr Artikel anhören
Angehörige der verschleppten Studenten protestierten vor einer mexikanischen Kaserne.
(Foto: picture alliance / AP Photo)
43 Studenten verschwinden 2014 aus dem mexikanischen Iguala. Schnell rücken die Behörden in den Kreis der Verdächtigen, doch die Hintergründe der Tat bleiben ungeklärt. Die Untersuchungskommission skizziert ein gigantisches Lügenkonstrukt des Staates, das ihre Ermittlungen unmöglich macht.
Das Schicksal der 43 Studenten, die 2014 in Mexiko verschleppt wurden, bleibt ungeklärt. Jene Wahrheitskommission, die den Fall aufklären sollte, gibt auf. Die unabhängigen Experten konnten den Grund für das Verschwinden der Studenten nicht finden. Auch zu einer Verurteilung für die Tat kam es in den vergangenen neun Jahren nicht. Verantwortlich dafür, so die Kommission, sei ein riesiges Lügenkonstrukt des Staates.
"Es tut weh, zu sehen, wie ein Fall, der in den ersten Wochen hätte gelöst werden können, sich in Lügen, Unwahrheiten und Ablenkungen der Ermittlungen verstrickt hat", schreiben die Experten in ihrem sechsten und letzten Bericht, wie die "New York Times" berichtet. Sie sind sich sicher, dass die Sicherheitskräfte des Landes nicht nur von der Entführung der Studenten wussten, sondern maßgeblich an ihrem Verschwinden beteiligt waren.
Es gebe genügend Beweise, die darauf hindeuteten, dass die mexikanischen Sicherheitskräfte auf lokaler, bundesstaatlicher und föderaler Ebene "alle zusammengearbeitet haben", um die Studenten verschwinden zu lassen, sagte Kommissionsmitglied Carlos Beristain auf einer Pressekonferenz zum Abschluss der Ermittlungen. Die nun veröffentlichten Ergebnisse würden zeigen, dass Armee, Marine, Polizei und sogar Geheimdienste zu jeder Minute wussten, wo sich die Studenten aufhielten, heißt es in dem Bericht. Die mexikanischen Soldaten wussten nicht nur von den Erschießungen, den Verhaftungen und der Gewalt "Sekunde für Sekunde", sondern wurden höchstwahrscheinlich auch Zeugen davon, sagte Ángela Buitrago, eine kolumbianische Anwältin und ein weiteres Mitglied der Kommission, auf der Pressekonferenz.
Handydaten decken Lügen von Soldaten auf
Ihre Untersuchungen haben ergeben, dass es einen ständigen Kommunikationsfluss über den Fall gab, der bis in die höchsten Ebenen des Militärs in der Region reichte, schreibt "NBC News" über den Bericht der Kommission. Auch würden neue technische Analysen von Handydaten und Dokumenten zeigen, dass Soldaten, die ursprünglich ausgesagt hatten, dass sie in der Nacht des Verschwindens in ihrer Kaserne waren, mit Orten in Verbindung gebracht werden können, an die die Studenten verschleppt worden sein sollen. Was genau sie dort taten, sei bis heute unklar. "Was wir wissen, ist, dass die Geschichte, die erzählt wurde, nicht wahr ist", sagte Beristain.
Sicher ist, dass die Studenten in der Nacht des 27. September 2014 entführt wurden. Die Teilnehmer eines linksgerichteten Lehrerseminars kaperten mehrere Busse in der Stadt Iguala, um zu einer Demonstration in der Hauptstadt Mexiko-Stadt zu gelangen. Dies war nicht ungewöhnlich für die Region und wurde für gewöhnlich geduldet. In dieser Nacht jedoch fingen Polizisten die Busse ab - und eröffneten das Feuer auf die Insassen. Bei Tagesanbruch waren sechs Menschen tot, Dutzende verletzt und 43 Studenten verschwunden.
Trotz der hohen Kriminalitätsrate des Landes erregten die vermisst gemeldeten Studenten auch international Aufsehen. Die Fotos der Angehörigen aus einfachen Bauernfamilien mit den Bildern ihrer Jungen gingen um die Welt. Schnell verkündete die damalige Regierung ein Ermittlungsergebnis: Korrupte Polizisten hätten die Studenten entführt und dem Drogenkartell "Guerreros Unidos" übergeben, mit dem sie zusammenarbeiteten. Die Bande hätte die jungen Männer getötet und auf einer Mülldeponie verbrannt. Die "historische Wahrheit" nannte der damalige Präsident Enrique Peña Nieto das.
"Behinderung der Justiz"
Doch Experten zweifelten an der Version der Ermittler. Der amtierende Präsident Andrés Manuel López Obrador griff den Fall im Wahlkampf 2018 wieder auf, versprach Aufklärung und dass die Familien endlich abschließen können. Schließlich beauftragte er die Wahrheitskommission mit der Untersuchung des Falls.
Diese hatte von Anfang an mit der Blockade der Behörden zu kämpfen. Auf der Pressekonferenz zum Abschluss ihrer Ermittlungen erklärten die Mitglieder der Kommission nun ihre Frustration über die mangelnde Bereitschaft der Streitkräfte zur Zusammenarbeit und beschuldigten sie der "Behinderung der Justiz". So hätten Mitglieder des mexikanischen Militärs nicht nur falsche Aussagen getroffen, sondern auch den Zugang zu wichtigen Dokumenten verweigert und Details über ihre Beteiligung an dem Verschwinden und der anschließenden Vertuschung zurückgehalten.
Die Kommission stellte auch fest, dass Angehörige der Marine und der Armee geheime Operationen durchführten, um relevante Informationen zu manipulieren, wie die "New York Times" berichtet. Sie sollen im Oktober 2014 heimlich einen Fluss durchsucht und Beutel mit Knochensplittern der verschwundenen Studenten gefunden haben. Dem Bericht zufolge gaben die Marinesoldaten dies jedoch nie bekannt, die Beutel wurden nie übergeben. "Es gibt Funde, die nie dokumentiert wurden, es gibt Beutel, die nie gemeldet wurden", heißt es in dem Bericht.
Präsident hält an Ermittlungen fest
"Das sind alles Lügen, eine nach der anderen", bilanzierte Beristain in der "New York Times". Die Kommission werde nicht weitermachen, "wenn wir nicht die Chance haben, Antworten zu bekommen", fügte er hinzu. Der Kommission sei es aufgrund der "Verschleierung und des Leugnens von Dingen, die offensichtlich sind", unmöglich, ihre Arbeit fortzusetzen. Die Vorenthaltung von Informationen "ist zu einer Zuständigkeit des Staates geworden", erklärte Beristain.
Zwar kam es im vergangenen Jahr zu über 80 Haftbefehlen, unter anderem gegen Soldaten, Polizisten, Bandenmitglieder und sogar den Ex-Generalstaatsanwalt Jesús Murillo Karam, der damals für die Ermittlungen zuständig war. Eine Verurteilung gab es jedoch bisher nicht. Die Expertenkommission glaubt fest an eine Mitschuld der Streitkräfte, allerdings kann sie die Hintergründe der Tat nicht zweifelsfrei rekonstruieren.
Um Gerechtigkeit zu schaffen, müsse es zuerst Wahrheit geben, sagte Beristáin auf der Pressekonferenz. Der erklärte politische Wille von Präsident López Obrador, den Fall aufzuklären, reiche angesichts der Verweigerung von Informationen insbesondere durch die Streitkräfte nicht aus. López Obrador versprach daraufhin, die Suche nach der Wahrheit nicht aufzugeben. "Ich bin verpflichtet, die ganze Wahrheit zu erfahren."
Quelle: ntv.de, spl