"Dschungelkind" in Hamburg Sabine Kuegler hat gelernt, mit ihrer Zerrissenheit zu leben


Sabine traf bei ihrem langen Aufenthalt auch Freunde aus der Kindheit wieder.
(Foto: Sabine Kuegler)
Sabine Kuegler hat ihre Kindheit im Dschungel verlebt. Sie ist dorthin noch einmal zurückgekehrt, um ihr Leben zu retten. Diese Reise hat sie nicht nur gesund gemacht, sondern geholfen, "endlich im Westen anzukommen und dort ein glückliches Leben zu führen".
50 Jahre ist Sabine Kuegler inzwischen, Unternehmerin und vierfache Mutter. Mit ihrem in 32 Sprachen übersetzten Bestseller "Dschungelkind" über das Aufwachsen beim Volk der Fayu in Westneuguinea, diese so andersartige Kindheit und ihre einzigartigen Erinnerungen, ist sie vielen Menschen nahegekommen. "Sie spielte nicht mit Puppen, sondern schwamm mit Krokodilen im Fluss", stand damals in der Ankündigung des Verlags.
In diesem Jahr veröffentlichte sie wieder ein Buch, sein Titel: "Ich schwimme nicht mehr da, wo die Krokodile sind". Es ist die Erinnerung daran, wie sie mit ihren Eltern und Geschwistern arglos in einem Fluss schwamm, bis die Einheimischen sagten, dass dies der Krokodilfluss ist. Für Kuegler ist es auch die Zusammenfassung ihrer Erfahrung, wie oft Menschen davon ausgehen, dass alle das Gleiche wissen oder für richtig halten. Sie selbst hat viele Jahre gebraucht, um zu akzeptieren, dass unter anderem der Zeit- oder der Gemeinschaftsbegriff der Stammeskultur ihrer Kindheit kaum etwas gemein hat mit dem der westlichen Welt.
Es ist auch das Ergebnis einer schweren Erkrankung, die Kuegler jahrelang beschäftigte. 2007 bemerkt sie die ersten Symptome. Was mit grippeartigen Beschwerden beginnt, wird zu einem immer wiederkehrenden Kreislauf, der in jeder Runde schmerzhafter und bedrohlicher wird. Ihre Knochen fühlen sich an, als stünden sie in Flammen. Ihr ist ständig übel, sie verliert immer mehr Gewicht. So beschreibt Kuegler es im Buch.
"Am Anfang habe ich das nicht registriert, weil ich einfach so beschäftigt war", erzählt sie ntv.de. "Ich war alleinerziehend, habe viel gearbeitet, war immer unter Druck, Geld zu verdienen." Doch das geht bald nicht mehr. Kuegler geht zu verschiedenen Ärzten, manche empfehlen Vitamine, andere Akupunktur oder Diät. Es gibt immer wieder neue Diagnosen, das Problem ist nur: Keine der verordneten Therapien hilft. "Ich habe wirklich alles durchgemacht von der modernen Medizin hin bis zur chinesischen, buddhistischen. Und es hat nichts geholfen, gar nichts."
Zurück in den Dschungel
Schließlich entscheidet sich Kuegler zu einem radikalen Schritt. Ihre Kinder ziehen zu ihren Vätern, sie selbst macht sich auf nach Papua-Neuguinea. Dort, vermutet sie, hat sie sich wahrscheinlich mit einem Parasiten angesteckt. Und wenn es irgendwo Hilfe gibt, dann vermutlich ebenfalls dort. "Die Einheimischen haben für die meisten Krankheiten ihre traditionellen Heilmittel, auch beispielsweise gegen Malaria", sagt sie.

Kuegler sieht heute den Ort als Heimat an, wo Menschen sind, die sie liebt.
(Foto: IMAGO/Rainer Unkel)
Eine Ärztin in Port Moresby, der Hauptstadt Papua-Neuguineas, kennt immerhin die Symptome, kann ihrer Patientin aber trotzdem keine Hoffnung machen. Denn alle Patientinnen und Patienten, die vorher auf diese Weise erkrankt waren, sind gestorben. Kuegler gibt trotzdem nicht auf. Sie hofft, solange am Leben zu bleiben, bis sie den Heiler oder die Heilerin trifft, die ihr wirklich helfen kann. Tatsächlich bringt der völlige Verzicht auf westliche Nahrung zunächst eine gewisse Besserung. Kuegler ernährt sich ausschließlich von Kokosnüssen und Wurzeln und kommt wieder etwas zu Kräften. Das ermöglicht ihr gemeinsam mit ihrem Freund Micky Reisen zu weit entfernt lebenden Stämmen.
Aus Monaten des Unterwegsseins werden Jahre. Manchmal geht es Kuegler nach der Medizin eines Heilers, dem Verzehr von Heilkräutern oder nach einer Zeremonie für einige Zeit wieder besser. In dieser Zeit unterstützt sie die Dörfer beim Anbau von Lebensmitteln. "In einem Stamm basiert alles auf dem Nehmen und Geben. Man muss immer etwas geben, bevor man was nehmen kann." Deshalb habe sie auch nicht einfach nach einem Heilmittel gefragt. "Wir haben gesagt, wir helfen euch mit dem Anbau in euren Gärten." Also zeigten sie, dass man Chilis zwischen die Pflanzen setzt, um weniger Pestizide zu verwenden. Oder wie Kokosnussschalen die Kakaoerträge steigern können. Für Kuegler sind es kleine Schritte, um mit nachhaltigen Agrarbetrieben auch der Armut zu begegnen.
Dann aber beginnt der Kreislauf aus den schmerzenden und kräftezehrenden Symptomen wieder von vorn. "Alles deutete darauf hin, dass es ein Parasit ist, der seinen Wirt sehr langsam umbringt. Am Ende konnte ich nicht mehr." Der klebrig-dicke Saft des sogenannten Blutbaums bringt schließlich auf den Salomonen den Durchbruch. Drei Tage lang ist sie dem Tod näher als dem Leben. Während der Stamm bereits Totenlieder für sie singt, hält sich Kuegler an dem Satz des Heilers fest: "Du wirst dich fühlen, als ob du stirbst. Aber keine Sorge, das wird nicht passieren." Es dauert lange, bis Kuegler wirklich glauben kann, dass sie geheilt ist. "Als ich zurückkam und einmal eine Erkältung bekommen habe, kam sofort diese Angst hoch. Es ist wieder da."
"Verstanden, wer ich bin"
Heute ist Kuegler wieder gesund und lebt in Hamburg. Sie hat die verlorenen Jahre mit ihren Kindern nachgeholt, so gut es ging. Sie sagt, sie sei auf ihrer Suche nach Heilung erwachsen geworden. "Ich war damals, als ich mit 17 aus dem Urwald nach Europa kam, so beschäftigt zu überleben, dass ich nie richtig die Möglichkeit hatte, über irgendwas nachzudenken oder reifer zu werden. Jetzt hatte ich das Gefühl, dass ich zum ersten Mal verstanden habe, wer ich bin." Das sei nur möglich gewesen, weil sie in die Stammeskultur zurückkehrte, in der sie durch ihre Kindheitserfahrungen zu Hause war. Erst da sei ihr klar geworden, wo die fundamentalen Unterschiede der beiden Kulturen liegen, und sie habe gelernt, dass sie im Westen nicht mit den so sehr verinnerlichten Überlebensstrategien aus dem Urwald zurechtkommen konnte.
Gegen Ende der insgesamt fünf Jahre im Urwald ist Kuegler so sehr eins mit dem Stamm geworden, in dem sie lebt, dass sie nicht mehr nach Hause möchte. Aber sie muss feststellen, dass sie auch im Urwald nicht wirklich dazugehört. Nach einer körperlichen Auseinandersetzung wird sie aus dem Stamm verstoßen und kehrt, auch aus Sehnsucht und Verantwortungsgefühl für ihre Kinder, nach Europa zurück. "Ich habe eine neue Chance auf Leben bekommen. Die wollte ich nutzen, um endlich im Westen anzukommen und dort ein glückliches Leben zu führen."
Bis heute gerät sie ins Schwärmen über das unvergleichliche Licht, die Lebendigkeit und die atemberaubenden Farben des Dschungels. Aber auch dort gibt es Nachteile und ein Vermissen. "Man vermisst ja oft das, was man gerade nicht hat." Im Dschungel sind das Toiletten, Strom, eine heiße Dusche, Schnee, die Weihnachtszeit, Blaubeeren und Currywurst. Doch Kuegler hat "begriffen, dass ich im Westen, anders als in der Stammeskultur, frei bin. Ich kann so leben, wie ich es möchte. Gleichzeitig bedeutet das eine große Verantwortung für mein Leben, die ich früher nicht kannte und auch nicht tragen konnte."
Inzwischen akzeptiert die 50-Jährige ihre Zerrissenheit. "Die Menschen dort gehen einfach anders miteinander um als hier. Vielleicht gibt es körperlich viel mehr Gefahren, aber auf der psychischen oder mentalen Ebene ist das Leben dort viel einfacher, weil man noch diese Gemeinschaft hat." Ohne die wäre Kuegler vermutlich nicht gesund geworden und sie fehlt ihr hier.
"Ich sehe sehr viel Einsamkeit und Verlorenheit. Aber ich sehe auch Menschen, denen es gut geht, weil sie sich ein gutes Umfeld gebaut haben, mit Freunden und Verwandten." Als Kind habe sie gedacht, jeder Mensch gehört zu einem Stamm. Das sei für sie wie ein Naturgesetz gewesen, weil sie so aufgewachsen war. "Aber ich habe nicht verstanden, dass man sich aktiv mit Menschen um sich herum zusammentun muss." Mit Menschen, die gut für einen sind und die einen unterstützen. "Das ist es, was Zufriedenheit im Leben bringt."
Quelle: ntv.de