Panorama

Heinsberg-Studie liegt vor Schätzung kommt auf 1,8 Millionen Infizierte

Gangelt liegt im Kreis Heinsberg, der besonders stark von der Pandemie betroffen ist.

Gangelt liegt im Kreis Heinsberg, der besonders stark von der Pandemie betroffen ist.

(Foto: imago images/Rupert Oberhäuser)

In dem Ort Gangelt im Kreis Heinsberg infizieren sich besonders viele Menschen mit dem Coronavirus. Wissenschaftler untersuchen das Ausbruchsereignis und stellen eine Hochrechnung an. Demnach ist die Dunkelziffer der Infizierten in Deutschland zehnmal höher als die Zahl der gemeldeten Fälle.

Die Zahl der Corona-Infizierten in Deutschland liegt einer Studie zufolge bei schätzungsweise mindestens 1,8 Millionen und damit um das Zehnfache höher als die gemeldeten Fälle. Zu diesem Ergebnis kommt eine wissenschaftliche Studie im besonders stark von der Corona-Pandemie betroffenen Ort Gangelt in Nordrhein-Westfalen, wie die Universität Bonn mitteilte. Wissenschaftler hatten für die Studie in der Ortschaft Hunderte Menschen auf das Coronavirus getestet.

Ein Forscher-Team um den Virologen Hendrik Streeck hatte 919 Einwohner in 415 Haushalten befragt und Corona-Tests vorgenommen. Im Zentrum der Studie stand die Ermittlung der Sterblichkeitsrate, also des Anteils der Todesfälle unter den Infizierten. Die Studie bestätigte das bereits veröffentlichte Zwischenergebnis, wonach 15 Prozent der Bewohner von Gangelt eine Infektion durchgemacht haben. Daraus ermittelten die Forscher die Sterblichkeitsrate, die in Gangelt bei 0,37 Prozent liegt.

Mit dieser Sterblichkeitsrate lässt sich den Forschern zufolge anhand der Zahl der Verstorbenen auch für andere Orte in Deutschland mit anderen Infektionsraten abschätzen, wie viele Menschen dort insgesamt Corona-infiziert sind. Der Abgleich dieser Zahl mit den offiziell gemeldeten Infizierten führt zur sogenannten Dunkelziffer. Für ganz Deutschland ergibt die Hochrechnung demnach rund 1,8 Millionen Infizierte. Offiziell gemeldet waren am Sonntag laut Robert-Koch-Institut (RKI) rund 162.600 Infektionen und fast 6700 Todesfälle.

"Ich bin da doch eher zurückhaltend"

"Das muss man natürlich immer ein bisschen mit Vorsicht genießen, es ist eine Schätzung", sagte Streeck zu den Zahlen. Gérard Krause, Leiter der Abteilung Epidemiologie am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung (HZI) in Braunschweig, warnte in einer Videokonferenz mit Journalisten davor, die Zahlen aus Gangelt auf ganz Deutschland zu übertragen.

"Ich bin da doch eher zurückhaltend", sagte er. Man könne zum Beispiel argumentieren, dass der Anteil der Corona-Toten in Gangelt ungewöhnlich niedrig sei. Es sei denkbar, dass die Ausbreitung des Virus in Seniorenheimen - wie man sie in den vergangenen Wochen beobachtet habe - in der Studie noch nicht abgebildet werde. In der Modellrechnung falle aufgrund der kleinen Größe der Gemeinde zudem ein einzelner Todesfall mehr oder weniger stark ins Gewicht. Insgesamt bezeichnete Krause die Daten der Studie allerdings als "sehr überzeugend".

In Gangelt hatten sich nach einer Karnevalssitzung Mitte Februar viele Bürger mit dem Virus infiziert. Die Gemeinde gilt daher als Epizentrum des Virus. Die Situation ist nur bedingt vergleichbar mit anderen Regionen Deutschlands - etwa ist die Zahl der Infizierten höher. Darauf weisen die Forscher in ihrer Studie auch hin.

"Welche Schlüsse aus den Studienergebnissen gezogen werden, hängt von vielen Faktoren ab, die über eine rein wissenschaftliche Betrachtung hinausgehen", sagte Streeck. "Die Bewertung der Erkenntnisse und die Schlussfolgerungen für konkrete Entscheidungen obliegen der Gesellschaft und der Politik." Die Studie war im Auftrag der NRW-Landesregierung entstanden.

Jede fünfte Infektion anscheinend ohne Symptome

In der Studie geht es auch darum, wie viele der befragten Infizierten Symptome zeigten. "Mit unseren Daten kann nun zum ersten Mal sehr gut geschätzt werden, wie viele Menschen nach einem Ausbruchsereignis infiziert wurden", erklärte Studienleiter Streeck. Zudem zeigte sich, dass offenbar etwa jede fünfte Infektion ohne Krankheitssymptome verlaufe. Dies bestätige die Wichtigkeit der Hygiene- und Abstandsregeln. "Jeder vermeintlich Gesunde, der uns begegnet, kann unwissentlich das Virus tragen", erklärte Koautor und Hygieneexperte Martin Exner.

Das Alter spielt beim Infektionsrisiko der Studie zufolge keine übergeordnete Rolle. In den untersuchten Mehrpersonenhaushalten war das Risiko für die Ansteckung einer weiteren Person überraschend gering. "Die Infektionsraten sind bei Kindern, Erwachsenen und Älteren sehr ähnlich und hängen offenbar nicht vom Alter ab", erklärte Streeck. Es gebe auch keine signifikanten Unterschiede zwischen den Geschlechtern.

Die Forscher verwendeten sowohl den gängigen PCR-Test, mit dem akute Infektionen erfasst werden, als auch Antikörpertests. Diese zeigen, wer eine Infektion hatte und zumindest zeitweise immun ist. Der Antikörpertest Elisa zeigt laut Vorstudien in etwa einem Prozent der Fälle fälschlicherweise eine durchgemachte Infektion an. Bei einem hohen Prozentsatz an Infizierten wie in Gangelt ist dies den Forschern zufolge nicht relevant. Bei den unter anderem vom RKI geplanten deutschlandweiten Studien mit einer geschätzten Infektionsrate von etwa einem bis zwei Prozent sei dieser messtechnische Unsicherheitsfaktor jedoch ein Problem.

Quelle: ntv.de, hul/AFP/dpa/jpe

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