Interview mit "Time"-Magazin Selenskyj hätte ersten Kriegstag beinah nicht überlebt
02.05.2022, 10:55 Uhr (aktualisiert) Artikel anhören
In der ersten Kriegsnacht entschied sich Selenskyj zu bleiben.
Seit mehr als zwei Monaten führt Russland Krieg gegen die Ukraine. Dass Präsident Selenskyj sein Land im Widerstand noch immer führt, ist dabei nur das Ergebnis glücklicher Umstände, wie er jetzt berichtet.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj ist in den ersten Stunden der russischen Invasion Ende Februar offenbar nur knapp der Festnahme und möglichen Ermordung durch russische Truppen entgangen. Im Interview mit dem "Time"-Magazin beschrieb Selenskyj, wie russische Truppen ihn und seine Familie beinahe gefunden hätten, als sie am ersten Tag des Konflikts versuchten, das Regierungsviertel der Hauptstadt zu erobern.
Viele seiner Erinnerungen an die Morgenstunden des 24. Februar seien bruchstückhaft, sagte Selenskyi dem US-Reporter Simon Shuster, der nach eigenen Angaben 14 Tage auf dem Gelände des Präsidenten in Kiew in der Bankowa-Straße verbrachte. Es gebe aber eine Erinnerung, die herausragte.
Nachdem die Bombardierung begonnen hatte, seien er und seine Frau Olena Selenska zu ihren Kindern gegangen, um ihnen zu sagen, dass sie sich auf die Flucht vorbereiten müssten. "Wir haben sie aufgeweckt", sagte Selenskyi über seine 17-jährige Tochter und den 9-jährigen Sohn. Zu diesem Zeitpunkt habe es bereits Explosionen gegeben. "Es war laut."
Es sei vollkommen klar gewesen, dass das Präsidentenbüro nicht der sicherste Ort ist. Das ukrainische Militär teilte Selenskyj mit, dass russische Einsatzkommandos mit dem Fallschirm nahe Kiew abgesprungen seien, um ihn und seine Familie zu töten oder gefangenzunehmen.
Wie im Kino
"Vor diesem Abend hatten wir solche Dinge nur im Kino gesehen", sagte Andriy Yermak, sein Stabschef, der Zeitschrift. Am ersten Kriegstag seien bei Einbruch der Nacht rund um das Regierungsviertel Schießereien ausgebrochen, schrieb Shuster. "Wächter auf dem Gelände schalteten die Lichter aus und brachten kugelsichere Westen und Sturmgewehre für Selenskyj und etwa ein Dutzend seiner Helfer."
Einer der wenigen Beamten, die mit den Waffen umzugehen wussten, sei Oleksiy Arestovych gewesen, ein Veteran des ukrainischen Militärgeheimdienstes. Ukrainischen Truppen gelang es, die Russen auf den Straßen zurückzuschlagen. Gleichzeitig habe die Präsidentengarde versucht, das Gelände mit allem zu blockieren, was sie finden konnte. Dem "Time"-Magazin zufolge war ein Tor am Hintereingang mit Polizeibarrikaden und Sperrholzplatten versperrt. Das alles habe aber eher einem Schrottplatz als einer Festung geglichen.
Laut Shuster unternahmen russische Truppen mindestens zwei Versuche, das Gelände zu stürmen, während Selenskyjs Familie noch darin war. Dem Bericht zufolge waren auch Freunde und Verbündete an Selenskyjs Seite, "manchmal unter Verletzung der Sicherheitsprotokolle". Einige hätten auch ihre Familien mitgebracht.
Wie in vielen Ländern sollen sich das Staatsoberhaupt und sein Stellvertreter und möglicher Nachfolger im akuten Bedrohungsfall nicht an einem Ort aufhalten, um die Führung zu gewährleisten. In der Ukraine ist der potenzielle zweite Mann der Parlamentspräsident. Aber auch Ruslan Stefanchuk, der diesen Posten innehat, sei am Morgen der Invasion direkt in die Bankowa-Straße gekommen.
Trotz der unmittelbaren Bedrohung lehnte Selenskyj sowohl britische als auch US-amerikanische Angebote für eine Evakuierung seiner Familie und seines engsten Umfeldes ab. Dies hätte ihm beispielsweise die Gründung einer Exilregierung im sicheren Ausland ermöglicht. Auch die Begleitung in einen sicheren Bunker außerhalb der Hauptstadt lehnte Selenskyj ab. Er habe geantwortet: "Ich brauche Munition, keine Mitfahrgelegenheit". In der Nacht am Ende des ersten Kriegstages nahm der Präsident im Hof seine inzwischen berühmte Videobotschaft mit dem Telefon auf, in der er zeigt, dass er und sein engster Stab in Kiew ist. Dem "Time"-Magazin sagte er, in diesem Moment sei er sich seiner Rolle im Krieg wirklich bewusst geworden. "Du bist ein Symbol. Du musst so handeln, wie ein Staatsoberhaupt handeln muss."
Ziel Nummer eins
Anfang März hatten britische Zeitungen bereits berichtet, dass mindestens drei Attentatsversuche auf Selenskyjs Leben vereitelt wurden. Russland habe zwei unterschiedliche Truppen entsandt, um den Staatschef der Ukraine zu töten. Bei den Attentätern soll es sich um die russische Söldnergruppe Wagner handeln und eine paramilitärische Einheit von Tschetschenen-Führer Ramsan Kadyrow.
Selenskyjs Familie wurde inzwischen an einen unbekannten Ort außerhalb von Kiew gebracht, der Präsident selbst hält sich weiter in Kiew auf.
(Dieser Artikel wurde am Freitag, 29. April 2022 erstmals veröffentlicht.)
Quelle: ntv.de, sba