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Epidemiologe im Interview "Sollten Lockdown vor Weihnachten einsetzen"

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"Je länger wir warten mit den starken Kontakteinschränkungen, desto höher geht es mit der vierten Welle."

(Foto: picture alliance / ZB)

Die neue Virusvariante Omikron sorgt für Nervosität. Epidemiologe Timo Ulrichs verweist im Gespräch mit ntv darauf, dass noch vieles im Unklaren liege. Auf keinen Fall aber dürfe jetzt im Kampf gegen die vierte Welle nachgelassen werden. Dabei werde man um Kontaktbeschränkungen nicht herumkommen.

Die neue Virusvariante Omikron sorgt für Nervosität. Epidemiologe Timo Ulrichs verweist im Gespräch mit ntv darauf, dass noch vieles im Unklaren liege. Einigermaßen sicher scheine, dass die Impfungen weiter vor schweren Verläufen schützen. Auf keinen Fall aber dürfe jetzt im Kampf gegen die vierte Welle nachgelassen werden. Dabei werde man um Kontaktbeschränkungen nicht herumkommen.

ntv: Es gibt mit Omikron eine neue Virusvariante, und die südafrikanischen Ärzte gehen davon aus, dass das zu milderen Verläufen führt. Wissen Sie da schon mehr?

Timo Ulrichs: Wir wissen noch nicht so viel, und die Zahl der Infizierten mit der Omikron-Variante ist noch relativ klein. Es sind eher die Jüngeren, die betroffen sind, was ja auch am niedrigeren Durchschnittsalter liegt. Wir müssen noch abwarten, ob auch ältere Menschen betroffen sein werden, gerade in Europa. Es ist zwar nicht schlecht, dass es so herum ist und dass die Verläufe, die wir kennen, eher milder sind als die, die die Delta-Variante verursacht. Aber man kann daraus noch nicht viel schließen.

Die Vorsitzende des südafrikanischen Ärzteverbandes berichtet davon, dass es ungewöhnliche Symptome gibt. Inwiefern unterscheiden die sich denn von den bisherigen Symptomen?

Was man zunächst nicht sieht, sind die Geruchs- und Geschmacksverluste bei den Patienten. Man sieht aber eben sehr starke Müdigkeit, Erschöpfung und weniger wiederum Auswirkungen auf die Lungenfunktion. Das heißt, das ist ein ganz anderes Bild. Auch hier muss man abwarten, wie sich das bei älteren Menschen darstellen wird.

Die Daten aus Südafrika zeigen auch, dass nur sehr wenige Fälle analysiert wurden. Was kann man dann über die Ausbreitung von Omikron sagen?

Die Ausbreitung fällt in eine Zeit, in der Frühling und Sommer auf der Südhalbkugel sind und eher wenige Fälle in Südafrika auftreten. Es sind also ganz andere Bedingungen als gerade bei uns, wo wir Hochinzidenzzeit haben. Deswegen muss man abwarten, wie sich diese Omikron-Variante, die wir ja in einzelnen Fällen auch schon in Europa sehen, hier verhalten wird. Das ist alles noch relativ offen. Es steht aber zu befürchten, dass wegen dieser vielen neuen Mutationen auch das Spike-Protein nochmal optimiert worden ist und möglicherweise fitter ist, die Infektion auszulösen. Inwieweit sich die neue Variante gegen Delta durchsetzen wird, muss man beobachten.

Experten sorgen sich, dass diese Variante den Immunschutz umgehen könnte. Heißt denn dieses sogenannte Immunescape automatisch auch, dass der Impfschutz gar nicht mehr wirkt?

Diesen Schluss kann man nicht ziehen. Es ist aber möglich, dass mit dieser Veränderung der Spike-Proteine - und das ist ein Zielort für die Antikörper, die man durch die Impfung erzeugt hat - das Virus schlechter in der Anfangsphase der Infektion abgewehrt werden kann. Das bedeutet aber nicht, dass die jetzigen Impfungen alle schlechter wirken. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wirken sie gegen schwere Verlaufsformen, die auch durch die Omikron-Variante hervorgerufen werden können. Es ist also kein Argument gegen das Impfen. Ganz im Gegenteil: Wir sollten alles dafür tun, dass wir den Impfschutz individuell vervollständigen - etwa durch die Booster-Impfung.

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Einen mRNA-Impfstoff anzupassen, sei eher eine Sache von Wochen als von Monaten, sagt Epidemiologe Timo Ulrichs.

Kann das jetzt trotzdem die Stunde der mRNA-Impfstoffe werden, wenn die auf die Variante angepasst werden? Wie lange würde das dauern, bis sie verimpft werden?

In den Startlöchern stehen die Firmen schon. Einen solchen Impfstoff anzupassen, dauert eher Wochen als Monate. Bis zur Zulassung und zum Beginn der Produktion, sodass es auch angewendet werden kann, eher Monate. Wir sollten uns jetzt in der vierten Welle nicht darauf verlassen, sondern die zugelassenen und zur Verfügung stehenden Impfstoffe möglichst flächendeckend zum Boostern und für die noch Ungeimpften einsetzen.

Seit wenigen Tagen gilt in Bus und Bahn die 3G-Regel. Eine neue Studie zeigt, dass 68 Prozent der Menschen diese Regel befürworten. Ich habe aber am Wochenende auch festgestellt, dass das nicht so genau kontrolliert wird. Bringen diese Regeln dann überhaupt etwas, wenn man gar nicht sicher sein kann, dass sich jeder an sie hält?

Ja, das ist ein bisschen misslich, weil sich der Nahverkehr am Anfang, als die Maßnahme diskutiert wurde, eher dagegen gewehrt hat. Und zwar, weil es so schwer zu kontrollieren ist. Aber wir hätten es schon viel früher einführen müssen. Möglicherweise sogar mit 2G im Fernverkehr. Also, das ist jetzt alles ein bisschen spät. Nun müssen wir sehen, dass wir damit zurechtkommen. Lückenhafte Kontrollen sind das eine. Aber der Appell an die Verantwortung jedes Einzelnen ist jetzt das Gebot der Stunde! Man sollte sich so verhalten, als wären die Kontrollen ständig da.

Welche Einschränkungen wären denn dann jetzt konkret vor Weihnachten unbedingt noch nötig, damit man die Entwicklung stoppt?

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Wir brauchen das Umsetzen dieser 2G- und 2G-plus-Regeln für fast alle Bereiche des öffentlichen Lebens, und das ganz stringent. Das kommt dann im Prinzip einer starken Kontaktreduktion schon nahe. Darüber hinaus müssen sich auch die vollständig Geimpften daran gewöhnen, dass Kontaktbeschränkungen dazukommen. Wir sind bei den Infektionszahlen so hoch, dass es auch auf diese Hilfe ankommt. Denn erst dann schaffen wir die Trendwende. Da kommen wir leider nicht drum herum. Letztendlich läuft das Ganze auf einen flächendeckenden Lockdown hinaus, den wir vor Weihnachten einsetzen sollten. Je länger wir warten mit den starken Kontakteinschränkungen, desto höher geht es mit der vierten Welle. Wir sind noch nicht auf dem Peak. Aber wir müssen sie unbedingt brechen, wenn wir uns die Situation in unserem Gesundheitswesen ansehen.

Mit Timo Ulrichs sprach Nele Balgo

Quelle: ntv.de

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