"Der Weg entsteht beim Gehen" Studienfach Mafia: Sezierung einer Krake


Wenn die Krake dich erst einmal hat, dann gibt sie dich nicht wieder her ...
(Foto: IMAGO/Dreamstime)
Bis 2009 war das Thema Mafia in Italiens akademischen Studienplänen nicht vorhanden. Heute ist die Mailänder Universität Vorreiter auf diesem Gebiet. Und das dank eines Professors, dessen Vater zu den Opfern der Cosa Nostra zählt.
"Geschichte einer akademischen Revolution" lautet der Titel des soeben erschienenen Sachbuchs über einen ganz besonderen Studiengang, den man seit 2013 an der Mailänder Fakultät für Politikwissenschaft wählen kann. Studien und Forschung beschäftigen sich mit der Mafia, in erster Linie mit der italienischen. Autor des Buchs und Urheber des Studiengangs ist Professor Nando dalla Chiesa.
Der Familienname dalla Chiesa gehört in Italien zu jenen, die unweigerlich mit Cosa Nostra assoziiert werden. Der General Carlo Alberto dalla Chiesa, Vater des Professors, wurde am 3. September 1982 bei einem Attentat in Palermo von der Mafia getötet. Mit ihm starben seine Frau Emanuela Setti Carraro und der Leibwächter Domenico Russo.
1966 war die Familie dalla Chiesa zum ersten Mal in die sizilianische Hauptstadt übersiedelt. Dalla Chiesa Senior war zum Oberst der Carabinieri-Legion in der sizilianischen Hauptstadt ernannt worden. "Ich war damals 16 und verliebte mich sofort in die Stadt", erzählt der Professor beim Treffen mit ntv.de in der Mailänder Fakultät. "Ich kam aus dem grauen, kalten Norden. In Palermo hieß es nach der Schule, 'Wollen wir baden gehen?', das war für mich einmalig."
Es dauerte jedoch nicht lange, da begann er auch die Schatten wahrzunehmen. "Ich verstand nicht, warum meine Klassenfreunde zu den Mafiosi hielten", fährt dalla Chiesa fort. "Als einmal ein Boss den Sicherheitskräften entkam, haben sie sogar gefeiert."
Studienobjekt: Der Mafioso-Vorort
In Mailand studierte er an der Wirtschaftsuniversität Bocconi. Seine Doktorarbeit befasste sich mit dem Thema "Das Mafia-Phänomen - Kontinuität und Wandel". Der Studienplan im Bereich organisierte Kriminalität ermöglicht es, sich in die unterschiedlichsten Richtungen zu bewegen. Hier ein paar Wegweiser: "Legalität und Organisierte Kriminalität"; "Rechte, Geopolitik und Legalität"; "Internationale Szenarien der Organisierten Kriminalität". Dieses Jahr ist die Meisterklasse "Kampf gegen Geldwäsche, Transparenz und Organisierte Kriminalität" hinzugekommen. Sie findet auf Italienisch und Spanisch statt.
Wozu die Studierenden genau forschen, wurde jüngst anhand von Abschlussarbeiten vorgestellt. Eine widmete sich dem sehr aktuellen Thema "Seltene Erden, Geopolitik und Interessen seitens der organisierten Kriminalität"; eine andere forschte über "Mafia und Vereinigte Arabische Emirate" und eine weitere erkundete den Bereich "Schule und Legalität".
Francesca Dalrì kommt aus dem norditalienischen Trient und hat sich mit der kalabrischen Mafia in Lona Lases befasst. In der Gemeinde, die zur Provinz Trient gehört und knapp 880 Einwohner zählt, hatten sich drei Clans der 'Ndrangheta eingenistet. Anfangs machten sie Geschäfte im Bauwesen, hauptsächlich mit Vulkangestein. Später fassten sie auch in der Politik, den öffentlichen Institutionen und der Wirtschaft der Provinz Fuß. "Das Thema Organisierte Kriminalität hat mich schon immer interessiert", sagt Dalrì ntv.de. "Freunde und ich haben in Rovereto auch eine Zweigstelle von Libera, dem Antimafia-Bollwerk von Don Luigi Ciotti aufgemacht." Deswegen sei sie nach dem Bachelor in Wirtschaft in Bozen eines Tages mit diesem Thema bei dalla Chiesa gelandet. Inzwischen arbeitet Dalrì als Journalistin.
Revolutionärer Studiengang
Das Studium über die Organisierte Kriminalität ermöglicht es auch beruflich, die verschiedensten Wege einzuschlagen. Einige seiner ehemaligen Studenten würden mittlerweile in der öffentlichen Verwaltung arbeiten, so dalla Chiesa. Andere seien in die Politik gegangen und wieder andere seien im Bildungsbereich tätig. Sehr hilfreich kann es aber auch im Bereich Finanz- und Bankgewerbe sein, wenn es um Korruption, Geldwäsche und Wucher geht. Oder im Bildungsbereich.
Revolutionär war die Einführung dieses Studiengangs aus mehreren Gründen. "Bis 2009 gab es kein Lehrfach in Italien, das sich mit diesem Thema beschäftigte", hebt dalla Chiesa hervor. "Es war die hiesige Fakultät für Politikwissenschaften, die als erste den Lehrstuhl 'Soziologie der Organisierten Kriminalität' einführte."
Ebenfalls revolutionär war auch, zumindest für den akademischen Bereich in Italien, dass neben Theorie und Forschung die Recherche vor Ort als ausschlaggebend galt. Das hat zur Einrichtung von CROSS, eines der größten Forschungszentren zum Thema Mafia, geführt.
Die Wanderuniversität
Zu den Vorortrecherchen gehört auch die alljährliche einwöchige Wanderuniversität. Eine in Palermo organisierte Woche gab den Anstoß zu zwei Masterarbeiten mit einem besonderen Fokus. Die recherchierten Themen lauten: "Der Kampf gegen die Mafia, zwischen Evangelium und Grundgesetz", und "Priester in Brancaccio".
Es war ein schockierender Vorfall im Brancaccio-Viertel, noch heute eine Hochburg der Cosa Nostra in Palermo, der die zwei Studierenden zur Wahl dieser Themen veranlasste. In diesem Viertel war am 15. September 1993 Don Pino Puglisi von der Mafia umgebracht worden. Don Maurizio Francoforte, ein Nachfolger von Puglisi, sei schon schwer krank gewesen, erinnert sich dalla Chiesa, nichtsdestotrotz hatte er drauf bestanden, ihn und seine Studenten zu begleiten. Er wollte ihnen die Hauptschule zeigen, für die Don Puglisi gekämpft hatte und ermordet worden war. "Während wir zur Schule gingen, näherten sich zwei Jugendliche auf einem Mofa, hielten dicht vor Don Maurizio und schrien ihm: 'Du weißt schon, dass du hier Null zählst' entgegen", erzählt dalla Chiesa.
Was den Studiengang betrifft, könnte man einwenden, dass der maßgebliche Fokus auf die italienische Mafia limitierend sei, es gibt schließlich unzählige andere kriminelle, transnationale Organisationen. Das stimmt auch, doch die Mafia trägt nicht nur aus Folklore den Spitznamen "Piovra", Krake. Was sie von den anderen Organisationen unterscheidet, ist das untrennbare Band, das die Clans an ihren Ursprungsort und an die "Famiglia" bindet, ganz gleich wie viele Ozeane man überquert und wie viele Kontinente man besiedelt hat. Und in diesem Zugehörigkeitsgefühl liegt auch ihre Stärke.
Mittlerweile erfährt der Studiengang internationales Renommee. Professor dalla Chiesa hat Seminare an der Humboldt-Universität in Berlin, sowie in München, Leipzig und Halle gehalten. Eine engere Zusammenarbeit mit Universitäten in anderen Ländern wäre natürlich interessant. Aber was nicht ist, kann ja noch werden. In seinem Buch zitiert dalla Chiesa den spanischen Dichter Antonio Machado: "Caminante, no hay camino, se hace camino al andar", auf Deutsch: "Wanderer, es gibt keinen Weg, der Weg entsteht beim Gehen."
Quelle: ntv.de