Von wegen "Familienservice"Täuscht die Bahn Kinderfreundlichkeit nur vor?
Von Peter Littger 
Wenn Eltern mit ihren Kindern in den Zug steigen, müssen sie mit peinlichen Diskussionen und sogar polizeilichen Zwischenfällen rechnen. Weil die Bahn nicht garantieren kann, was die Werbung verspricht.
Warum sollten die sogenannten Familienangebote der Bahn verlässlicher sein als ihre anderen (inflationären) Versprechen: zum Beispiel die "erwartete Abfahrtszeit", die "geplante Ankunftszeit" oder die "voraussichtliche Verspätung"? Wäre wenigstens von einem irgendwie "beabsichtigten" oder "gut gemeinten Familienangebot" die Rede. Doch die Bahn bleibt lieber großspurig, wenn es um Kinder geht. Das demonstriert die Mail einer Sprecherin auf Anfrage von ntv.de - sofern der Text überhaupt von einem Menschen verfasst wurde: "Die Deutsche Bahn möchte Familien auf Reisen Zeit schenken, Verantwortung abnehmen und Klein wie Groß entspannt und sicher ans Ziel bringen." Das ist plumpe Wohlfühl-PR, die keine Wünsche von Müttern und Vätern offen lassen soll.
Dabei schafft die Bahn für "Familien auf Reisen" Anlass zu Frust, Wut und vor allem zur Forderung nach einem echten "Familienservice", der diese Bezeichnung verdient. Zum Beispiel wenn Minderjährige ihr Recht auf eine gratis Mitfahrt nutzen wollen oder wenn Familien im "Familienbereich" der Züge keinen Platz finden oder wenn Familien weiterhin vergünstigte Reservierungen vornehmen möchten.
Der letzte Punkt ist seit der Abschaffung der Familienreservierung im Juni 2025 immerhin öffentlich diskutiert worden. An der Entscheidung der Deutschen Bahn hat das nichts geändert, selbst wenn sie eine Petition nach sich zog, die gut 130.000 Menschen unterschrieben haben. Die Kritiker rechnen vor, dass eine Familie für die Reservierung von vier Plätzen auf einer Strecke heute 22 Euro zahlt, statt zuvor 10,40 Euro. Rechnerisch ist das eine Verdopplung des Preises - was als Wucher betrachtet werden kann, zumal die Bahn auf vielen Strecken Monopolist ist, es also kein alternatives Beförderungsunternehmen gibt.
Nichtsdestotrotz lässt sich dieses Problem mit Geld lösen - sofern man es hat. Danach steht einer guten Fahrt nichts im Weg. Naja, das kann man nicht immer behaupten: Zum Beispiel, wenn ein Kind bis zum Alter von 14 Jahren eine erwachsene Person begleitet - sogar, wenn es sich dabei um Mutter oder Vater handelt. Das Versprechen der Bahn zur Gratismitfahrt kann sich zu einem handfesten Konflikt mit dem Zugpersonal und sogar mit der Bundespolizei auswachsen - wie der Autor aus eigener Erfahrung zu berichten weiß. Denn um ohne Aufpreis zu reisen, hat die Bahn eine ebenso kleingedruckte wie kleinliche Bedingung aufgestellt: Der/die Minderjährige muss auf der Fahrkarte der erwachsenen Person eingetragen sein.
Ist dies etwa aufgrund einer kurzfristigen Entscheidung zur Mitfahrt nicht möglich oder wird dies - von der erwachsenen Person - schlicht versäumt, fährt das Kind aus Sicht der Bahn schwarz. Obwohl Kinder keinerlei Verpflichtung im Buchungsprozess haben - und infolgedessen auch nichts unterlassen können, was eine Schwarzfahrt begründet - und obwohl sie zugleich davon ausgehen dürfen, dass sich die Eltern oder eine andere erwachsene Begleitperson um alles Erforderliche kümmert, werden sie von der Bahn wie Schuldige (und schuldfähig) behandelt. Sie müssen dann mit einer sogenannten Fahrkarten-Nacherhebung rechnen.
Mal ein Auge zudrücken - nicht mit der Bahn
Und mehr noch: Die so unangenehme wie überflüssige Diskussion darüber kann pedantische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bahn dazu veranlassen, die Bundespolizei hinzuzuziehen. Andere nutzen unterdessen ihren Spielraum und lösen die Situation konfliktfrei, indem sie in gleicher Weise ein Auge zudrücken, wie es Tausende Fahrgäste tagtäglich gegenüber den Versäumnissen der Bahn machen.
Statt die fehlende Eintragung des Kindes auf der Fahrkarte eines Erwachsenen als Schwarzfahrt zu behandeln, sollte es als Fehler der erwachsenen Person gehandhabt werden - für den die Bahn bislang allerdings keine Handhabe hat. Statt also das Kind mit einer Strafe und Nachforderung zu kujonieren - die vor keinem Gericht Bestand hätte, wäre eine Bearbeitungsgebühr, zum Beispiel von zehn Euro, für den Fahrkarteninhaber angemessen. Warum nach etlichen Vorfällen dieser Art niemand im Bahn-Konzern auf die Idee gekommen ist, das Problem - auch zur Entlastung des eigenen Zugpersonals - zu lösen, bleibt ein Rätsel. Auf jeden Fall raubt diese zweifelhafte wie negative Praxis dem PR-Text der Pressestelle der Bahn die letzte Substanz, wo es heißt: "Wir sind davon überzeugt: Wer als Kind an Bahnfahren herangeführt wird und positive Erfahrungen mit diesem Reisemittel sammelt, der wird auch als Erwachsener gerne mit der Bahn reisen."
Die Bahn motiviert Familien - nur wozu?
Zu einer anderen unangenehmen Situation kommt es für Familien immer wieder im "Familienbereich" der Züge - einerseits mit anderen Passagieren und andererseits mit dem Personal. Der Grund dafür liegt in einer Formulierung, die auch in der PR-Message der Pressestelle gegenüber ntv.de enthalten ist: "Die Familienplätze können bevorzugt von Familien reserviert werden." Tatsächlich simuliert der Satz bloß Familienfreundlichkeit, denn im Klartext bedeutet er: Die Familienplätze können auch von anderen Menschen reserviert werden. Die Bahn nimmt damit nicht nur in Kauf, dass Familien im "Familienbereich" keinen Platz finden und leer ausgehen, sondern auch, dass sich Alleinreisende ohne Kinder sprichwörtlich fehl am Platze fühlen. Durch das hohle Serviceversprechen können sich letztendlich zwei Kundengruppen benachteiligt fühlen: Ruft man das Personal zu einer Schlichtung herbei, ist diese aufgrund der irreführenden Regel unmöglich.
Ein Sprecher des Bundesverkehrsministeriums hat gegenüber ntv.de klargestellt, dass die hier angeführten, vermeintlichen Familienangebote der Bahn freiwillig seien, also eine Art "Managemententscheidung", die auf keinem politischen Auftrag basiere. Verbindlich verlangt die Politik unterdessen von der Bahn mehr Kundenorientierung und zuverlässigen Service. Es ist zweifelhaft, ob die geschilderten Entgleisungen in der Beförderung von Minderjährigen und Familien diesem Anspruch gerecht werden. Mit großer Wahrscheinlichkeit führen sie nicht dazu, was eine zentrale Annahme der Pressesprecherin gegenüber ntv.de darstellt: "Die Regelung [Familienangebote der Bahn, Anm. der Red.] hat viele Familien motiviert, das Auto stehen zu lassen und weitere Strecken mit dem Fernverkehr zurückzulegen."