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Tonnenschwere Massengräber Viele Türken suchen jetzt nur noch nach Fingern

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Eine Wohngegend als Massengrab: Antakya

Eine Wohngegend als Massengrab: Antakya

(Foto: picture alliance/dpa/AP)

Die Erdbeben in der Türkei und in Syrien reißen Zehntausende in den Tod. Menschen harren immer noch vor den Trümmern aus - in der Hoffnung, doch noch ihre Liebsten zu finden. Damit sie sie wenigstens beerdigen können.

Metin Yalman will für seinen Sohn Berge versetzen. Eigentlich nur einen Berg - und zwar den aus Schutt, unter dem sein Sohn seit einer Woche begraben liegt. Metins Hände sind schwarz von Dreck. Immer wieder hat er damit nach seinem Samet gegraben. Aussichtslos. Der 25-Jährige liegt unter den Trümmern eines ehemals neunstöckigen Gebäudes im Zentrum der türkischen Stadt Antakya nahe der Grenze zu Syrien.

Metin Yalman will nicht gehen, ...

Metin Yalman will nicht gehen, ...

(Foto: picture alliance/dpa)

Samet wohnte im ersten Stock. Keiner sei gekommen, um bei der Suche nach seinem einzigen Sohn zu helfen, sagt Metin. Seit sechs Tagen harrt er nun schon vor dem Gebäude aus. Dabei hätten japanische Ingenieure in den ersten Tagen mit Spezialgeräten noch drei Herzschläge unter den Trümmern gehört. Metin hat sich eine Couch aus den Ruinen vor das Wohnhaus gestellt und will bleiben - solange, bis sie Samet rausholen.

Tonnen von Trümmern

Die Toten liegen unter Tonnen von Trümmern begraben. Die psychische Last, die auf den Überlebenden liegt, ist unermesslich. Das Beben vom vergangenen Montag hinterlässt tiefe Narben. Mehr als 33.000 Menschen sind offiziell in der Türkei und Syrien als Todesopfer bestätigt. Sehr wahrscheinlich werden es noch viele mehr werden.

... bevor sein Sohn Samet gefunden ist.

... bevor sein Sohn Samet gefunden ist.

(Foto: picture alliance/dpa)

Das Beben vor einer Woche im türkisch-syrischen Grenzgebiet hat unermessliches Leid gebracht. Tausende Familien wurden auseinandergerissen, Städte dem Erdboden gleichgemacht, Menschen für ihr Leben lang traumatisiert.

Maus aus Plüsch - mehr nicht

Überall in Antakya haben Menschen Lager vor den Trümmern errichtet, in denen sie ihre Verwandten vermuten. Die 65-jährige Halime Koyuncu steht vor einem Berg, an dem nichts mehr an ein Haus erinnert. Hier wartet sie auf die Bergung ihrer beiden Enkel, fünfjährige Zwillinge. Wenige Meter weiter sitzt eine Frau und hält eine Maus aus Plüsch in der Hand. Mehr als dieses Kuscheltier von ihrem zweijährigen Enkel wurde noch nicht gefunden. Gemeinsam mit ihrer Familie hofft sie auf irgendeine Nachricht aus den Trümmern. Zehntausenden Menschen in den betroffenen Regionen geht es so.

Viele hier haben keine Hoffnung mehr darauf, Enkel, Söhne, Töchter oder Lebenspartner noch einmal wiederzusehen. Aber sie wollen Gewissheit und sich verabschieden können. "Und wenn ich nur einen kleinen Finger von meinem Sohn finde und ihn begraben kann", sagt Metin. Doch bisher wird nach seinem Sohn nicht gesucht.

30 Stunden ohne Schlaf

Wenige Meter weiter geht Hündin Roxy an einem Trümmerberg auf die Spur nach möglichen Überlebenden. Die siebenjährige Labrador-Hündin ist Teil eines Teams von Rettern aus Varanasi in Indien. Dank der Hündin seien bisher neun Personen lebend geborgen worden, sagt Hundeführer Pawan Kumar. Sie gibt Laut und damit die Richtung an, in der sie Menschen vermutet.

Viele Retter sind seit Tagen im Einsatz. Ein junger Feuerwehrmann aus Istanbul sagt, er habe seit 30 Stunden nicht geschlafen. Auf ihnen liegt die Last zu wissen, dass jede Minute Schlaf den Tod eines Verschütteten bedeuten kann. Er habe eine Stimme gehört, eine Frau, es soll eine 60-jährige Professorin sein. Seit Stunden schon versuchen sie, sich ihr zu nähern.

"Sobald man Stimmen hört, verlangsamt sich der Rettungsprozess ungemein", sagt der Mediziner Thomas Geiner. "Das ist das Problem." Nicht nur in der Stadt Antakya seien so viele verschüttet. Unter den Trümmern in der Türkei und ihn Syrien werden noch Tausende vermutet.

"Leiche"

500 Meter weiter. Auch hier hämmern Presslufthammer ohrenbetäubend laut durch Betonplatten. Doch dann wird es mucksmäuschenstill. "Bewegt Euch nicht, das ist eine Anweisung." Schlagen die Messgeräte an, könnte das Überlebende bedeuten. Diesmal hören sie nichts.

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"Ceset", ruft ein Helfer aus den Trümmern - "Leiche". Die Wartenden stehen auf, vielleicht sind es ja ihre Angehörigen, die gefunden werden. Kurz darauf legen Soldaten und Katastrophenhelfer einen schwarzen Sack mit einem Toten in einen grünen Sarg aus Zink. Der Bestattungswagen steht schon bereit.

Zwei Autostunden entfernt, in der Stadt Kahramanmaras, schreit eine Frau: "Meine Tochter!" Sie sackt in sich zusammen, als Menschen in roten Jacken einen schwarzen Beutel zum Leichenwagen tragen. Zwei Helferinnen halten sie fest und weinen mit ihr. In Antakya und Kahramanmaras sind etliche schwere Maschinen Tag und Nacht im Einsatz. Aber angesichts der Größe des Gebiets sei es schier unmöglich, allen Menschen zu helfen, sagt Erdbebenexperte Geiner. Metin Yalman will weiter vor der Ruine ausharren, bis er seinen Sohn begraben kann.

Quelle: ntv.de, Anne Pollmann und Boris Roessler, dpa

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