Verlauf unvorhersehbar Ciesek rät von vorsätzlicher Ansteckung ab
20.01.2022, 10:56 Uhr (aktualisiert)
Ciesek ist Direktorin des Instituts für Medizinische Virologie am Universitätsklinikum Frankfurt sowie Professorin für Medizinische Virologie an der Goethe-Universität.
(Foto: picture alliance/dpa)
In der Omikronwelle mischen sich Pandemiemüdigkeit und die wachsende Überzeugung, dass es jetzt nicht mehr so schlimm ist, sich zu infizieren. Virologin Ciesek sieht das jedoch ganz und gar nicht so.
Die Virologin Sandra Ciesek hat davor gewarnt, sich jetzt aktiv um eine Ansteckung mit dem Coronavirus zu bemühen. Auch wenn sie im Coronavirus-Update des NDR die Einschätzung teilte, dass sich durch die Omikron-Welle vermutlich die Immunitätslücke schließen wird, äußerte Ciesek Unverständnis darüber, sich vorsätzlich anzustecken.
"Für mich ist es absurd, dass man sich extra überlegt, sich anzustecken. Ich stecke mich ja auch nicht absichtlich mit dem Hepatitis-C-Virus an, nur weil man es gut behandeln kann", sagte die Chefin der Frankfurter Universitätsvirologie. "Das kann ich als Ärztin nicht nachvollziehen, allein weil ich das Gesundheitssystem nicht noch weiter belasten will. Davon möchte ich entschieden abraten." Zwar gebe es weltweit Hinweise, dass der Verlauf der Corona-Infektionen bei der Omikron-Variante milder ist als bei der Delta-Mutation, doch es gebe noch viele Unsicherheiten.
Niemand wisse, wie sein individueller Krankheitsverlauf ist. Daten aus Südafrika zeigten zudem, dass Ungeimpfte zwar eine spezifische Immunreaktion auf Omikron ausbilden, jedoch kaum Antikörper gegen Delta entwickeln. Deshalb vermute sie, dass sich Genesene mit einer anderen Variante erneut anstecken können. Es gebe außerdem kaum Daten zu Long Covid und zu PIMS, einem Entzündungssyndrom, das erst Wochen nach einer Coronavirus-Infektion vor allem bei Kindern entstehen kann. Bisher wisse man nicht, wie häufig diese Krankheitsbilder nach einer Omikron-Infektion auftreten. "Die PIMS-Fälle, die jetzt in der Klinik auftauchen, sind noch die aus der Delta-Welle", sagte Ciesek. "Für eine Beurteilung unter Omikron ist es viel zu früh. Das bleibt eines der großen Fragezeichen und ist auch einer der Gründe, warum man nicht sagen kann: Wir lassen es jetzt einfach laufen."
Noch kein endemischer Zustand
Überlegungen, dass sich Deutschland bereits im Übergang in eine endemische Lage befindet, erteilte die Virologin eine Absage. "Eigentlich kann man von einem endemischen Zustand erst reden, wenn alle mit dem Virus schon mal in Kontakt waren - entweder durch eine Infektion oder durch die Impfung", sagte Ciesek. "Und das ist der Zustand, den wir noch gar nicht erreicht haben." Der Übergang in eine endemische Phase sei ein schleichender Prozess und gerade in Deutschland mit seinen großen Impflücken noch ein weiter Weg. Diesen Zustand, in dem das Virus in der Bevölkerung zirkuliert, aber nur noch wenige schwere Erkrankungen auslöst, erreiche man nicht von heute auf morgen.
Als Wege aus der Pandemie beschrieb die Wissenschaftlerin zwei mögliche Strategien: Im Team Vorsicht werde mit Maßnahmen die Zeit bis zum Frühjahr überbrückt. Dabei warte man ab, bis mehr Erkenntnisse zu Omikron und angepasste Impfstoffen vorliegen. Die derzeitigen Maßnahmen ließen aber vermuten, dass die Tür für das Virus mehr und mehr geöffnet wird. Ciesek nannte als Beispiel die aufgehobene Quarantäne für Kontaktpersonen, die eine Booster-Impfung erhalten haben, frisch doppelt geimpft sind, geimpft und genesen oder frisch genesen sind.
"Medizinisch-virologisch" verstehe sie das nicht. Zumal Zahlen aus Dänemark und auch erste Daten aus ihrem Frankfurter Labor zeigten, dass sich auch Geboosterte und sogar vierfach Geimpfte mit Omikron infizieren können. "Wenn man sagt, das ist egal, wenn sie sich infizieren, weil die nicht schwer erkranken, dann kann man das so machen. Um Infektionen zu minimieren, ist es nicht sinnvoll."
Viele Menschen würden aber offenbar die abwartende Strategie nicht mittragen und lieber das Risiko und Kollateralschäden in Kauf nehmen, um aus der Pandemie herauszukommen. Das sei im Endeffekt auch ein gesellschaftliches Agreement. "Das kann für Einzelne nach hinten losgehen, das ist klar. Verlierer sind und bleiben die, die keinen ausreichenden Immunschutz haben aufbauen können", so Ciesek. Die Wissenschaftlerin warnte jedoch ausdrücklich davor, das Coronavirus zu unterschätzen. "Wir sind alle überrascht worden von Omikron und auch von Delta", so die Virologin. "Wir wissen auch nicht, was sich das Virus noch einfallen lässt."
(Dieser Artikel wurde am Mittwoch, 19. Januar 2022 erstmals veröffentlicht.)
Quelle: ntv.de, sba