Im Bett arbeiten - kein Traum Was macht ein "Botschafter des Schlafs"?


Ein Drittel des Lebens wird geschlafen. Novarina genießt den Schlaf genauso wie das wache Leben.
(Foto: Virgile Novarina)
Seine Arbeitskleidung: Nachtmaske und Ohrstöpsel. Sein Arbeitsumfeld: ein Bett. Im Schaufenster, im Knast, aber auch zu Hause. Virgile Novarina ist einem mysteriösen Zustand seit dreißig Jahren auf der Spur. Dabei schläft er viel, auch öffentlich. Eine hellwache Begegnung mit dem frisch gekürten "Botschafter des Schlafs".
Und, wie haben Sie geschlafen – sind Sie todmüde und gerädert oder hellwach und erfrischt? Fallen Sie unter die Kategorie Lang- oder Kurzschläfer, Lerche oder Eule? Fühlen Sie sich frühjahrsmüde? Oder voller Tatendrang? Es wird um den Schlaf gehen in diesem Text, denn er ist nicht nur tägliches Gesprächsthema, sondern essenziell für die Gesundheit. Ohne ihn würden wir krank werden, denn beim Schlafen regeneriert sich der Körper von den Strapazen des Lebens.
Zugleich ist Schlaf ein höchst rätselhafter Zustand. Einer, der sich seit Jahrzehnten mit dem Phänomen Schlaf beschäftigt, ist Virgile Novarina: Er schafft schlafend sogar einzigartige Kunststücke. Gerade wurde der Franzose in Berlin zum "Botschafter des Schlafes" ernannt - die Deutsche Stiftung Schlaf vergibt alle zwei Jahre Preise rund um das Thema an Wissenschaftler, Unternehmen und Künstler.
Menschen verschlafen ein Drittel ihres Lebens
"Das Interesse fokussiert sich vorwiegend auf unsere Wachphasen. Was aber passiert, während wir schlafen und in der Zeit, an die wir uns nicht erinnern? Unser Hirn arbeitet in den Tiefschlafphasen ja weiter auf Hochtouren", sagt Virgile Novarina ntv.de beim Treffen in Berlin. Es sei bekannt, dass Wissenschaftlern komplexe Lösungen durchaus schon im Schlaf eingefallen seien. Und genau über dieses Phänomen plant er einen Film. Novarina ist eigentlich studierter Mathematiker und Physiker - wie ist er in der nicht gerade faktenbasierten Kunstwelt gelandet? Ihm sei diese eine Frage im Kopf herumgeschwirrt, antwortet er. "Was fühlen wir, wenn wir schlafen? Dieser subjektive Aspekt ist wenig erforscht, aber er hat mich stark interessiert."
In der Versenkung der Erinnerung
Als Schlaf-Botschafter möchte Virgile Novarina die Wichtigkeit seines Lebensthemas stärker ins Bewusstsein der Menschen bringen. "In den vergangenen Jahrzehnten ist Schlaf mehr und mehr zum Gesundheitsproblem geworden. Die Leute schlafen immer schlechter, was an der unbegrenzten Nutzung von Bildschirmen liegt. Abends im Bett werden noch schnell die letzten E-Mails gelesen", erklärt er. Dabei suggeriert das blaue Licht des Bildschirms dem Gehirn, dass es bereits morgens ist. Die Folgen liegen auf der Hand: Sechs Millionen Menschen leiden allein in Deutschland unter Schlafstörungen. Und genau um dieses Thema wird sich der Film des 48-Jährigen drehen.
Er bezeichnet sich selbst als "Schlafender". Seit dreißig Jahren ist er den Geheimnissen des Schlafes auf der Spur und kämpft gegen das "Vergessen". Er ist überzeugt, dass man im Schlaf kreativer ist, in der Stille der Dunkelheit besser sieht und genauer hört. Um zu wissen, was in seinem Schlaf passiert, hat er sein Schlafgedächtnis trainiert und führt akribisch Buch. Sein Wissen teilt er weltweit in Filmen, Ausstellungen und Büchern mit einem breiten Publikum, Schülern und Studenten. Novarina vernetzt sich fächerübergreifend mit Wissenschaftlern, Ingenieuren, Schriftstellern, Philosophen und Musikern. Es wäre gut, noch mehr über dieses Drittel des Lebens zu erfahren, findet er. Es sei so unendlich reich, aber verschwinde fast immer in der Versenkung der Erinnerung.
Stift und Zettel am Bett
Schlaf ist Novarinas Inspirationsquelle - für alles. Bereits im Studium legte er Stift und Papier neben sein Bett. Er will verstehen, was er denkt, während er schläft. Der Tiefschlaf ist für gewöhnlich eine Art geheimnisvoller Raum, doch Novarinas Meinung nach ist er mehr als ein Ort für Träume: "Mit 18 wurde mir klar, dass ich nichts über volle sechs Jahre meines Lebens wusste, weil ich nur zwölf Jahre wach war und die restliche Zeit geschlafen habe. Ich begann meine Erinnerung an den Schlaf zu stärken", erinnert er sich und führt seither sein Schlaf-Tagebuch. Er notiert unter anderem, wo und wie lange er geschlafen hat und wie viele Minuten er zum Einschlafen braucht.

Seine Schlafmasken und Zeichnungen sind Teil der Schlafperformance, die manchmal über die Öffnungszeiten der Museen hinausgeht.
(Foto: Susanne Hinrichs)
Virgile Novarina hat gelernt, während der Phasen des Mikrowachseins im Tiefschlaf Notizen zu machen. Normalerweise vergisst man diese Augenblicke, die entstehen, wenn man sich beispielsweise umdreht. Klingt kompliziert, kann aber angeblich jeder trainieren: In flüchtigen Momenten des Wachseins schreibt man seine blitzartigen Gedanken, Empfindungen, Wort- und Bilderfetzen auf. Ohne das Licht anzumachen. Morgens entziffert Novarina seine Notizen und protokolliert sie ordentlich. Das, was er aufschreibt, ist für ihn immer noch überraschend. "Logik spielt im Tiefschlaf keine Rolle mehr, das Gehirn ist sowohl vom Wachzustand als auch vom Traumzustand weit entfernt", sagt er. Aus diesen nächtlichen Schriften und Zeichnungen entstehen seine Ausstellungen. Von Dänemark über Paris bis nach Bremen kommt das Publikum in Novarinas reiche, mysteriöse Welt. Dabei lernt es einiges über die Vielschichtigkeit des lebensnotwendigen "Status Schlaf".
Stadtschlaf oder Landschlaf

Schlaf ist universell. Virgile Novarina schlummert auch mal im Schaufenster eines Bekleidungsgeschäftes.
(Foto: Hervé Maillet)
Von den Schlafperformances war Novarinas Galeristin zunächst nicht überzeugt. Der Künstler und Wissenschaftler möchte seinem Publikum aber zeigen, wo er seine kryptischen Bild- und Wortideen herholt – aus dem Tiefschlaf. Er arbeitet also, während er in Morpheus Armen liegt. Inzwischen schläft er seit fast zwanzig Jahren in Museen, Galerien, Schaufenstern, Schulen oder im Gefängnis. "Schlaf ist etwas Universelles, und ich wollte meine Performance aus dem Kunstkontext holen. Warum also nicht auch mal in einer Haftanstalt? Nach vier Monaten Vorbereitung fand dort meine geheimste Ausstellung statt. Nicht mal meine Frau durfte sich die Ergebnisse der Arbeit mit den Häftlingen anschauen", erzählt Norvarina lachend.
Der Schlaf ändere sich mit jedem Ort, so Novarina. Hinzu kommen Lärm-, Licht und Umweltverschmutzung sowie Luftqualität. Es mache einen Unterschied, ob man auf dem Land oder in der Stadt schläft. Kann er auf Knopfdruck schlafen? "Powernappen kann ich immer und überall. Heute habe ich am Flughafen in Paris, wo ich wohne, kurz vor dem Abflug nach Berlin geschlafen", erzählt er. Als Kind sei er mal aus einem Stockbett geplumpst und habe auf dem Boden einfach weitergeschlafen. Für die Schlafvorstellung reicht Powernapping nicht. Zwei Tage und zwei Nächte bleibt er wach, nur so funktioniert die Performance. Sein Geheimtipp, um nicht vorher wegzudämmern: Duschen und spazieren gehen.
Schlaf - für KünstlerInnen schon immer ein Thema

Der Botschafter des Schlafes wünscht sich, dass mehr Menschen den eigenen Schlaf hinterfragen.
(Foto: Hervé Maillet)
Von der Antike bis in die Moderne war er ein ästhetisches Motiv, es entstanden einfach intimere Bilder. Schlafende wurden jedoch auch als Objekt voyeuristisch ausgeschlachtet. Nackt und in sämtlichen Schlafpositionen filmte der amerikanische Pop-Art-Künstler Andy Warhol seinen Lebensgefährten, den Dichter John Giorno, beim Schlafen. Daraus entstand ein minimalistischer, soundarmer Film, der lange sechs Stunden dauert. Virgile Novarina hat Giorno sogar einmal für ein Interview getroffen: Er habe ihm erzählt, dass Andy Warhols Kamera so oft aussetzte, dass der Künstler am Ende nicht genug Material für sechs Stunden Film hatte. Also schnitt er wieder und wieder die gleichen Szenen hintereinander.
Für Virgile Novarina ist Schlaf höchst produktive Zeitverschwendung. Da hat jeder allerdings eine andere Sichtweise – schon immer. Napoleon kam angeblich mit vier Stunden Schlaf aus, Albert Einstein soll der Legende nach 14 wertvolle Stunden täglich geschlafen haben. Novarina versucht es mit täglich neun Stunden. Gut ausgeschlafen, kann er intensiv über Schlaf forschen. Als Schlaf-Botschafter hat er noch einen Tipp: "Treffen Sie wichtige Entscheidungen immer morgens. Das ist einfacher als abends. Nach einer Nacht voller Schlaf weiß man einfach, was besser für das Leben ist."
Quelle: ntv.de