LKA veröffentlicht Lagebericht Wie Berlin gegen Clankriminalität kämpft


Immer wieder durchsuchen Berliner Beamte Shisha-Bars, Kioske und Cafés in der Hauptstadt.
(Foto: picture alliance/dpa)
Die Bekämpfung krimineller Clans steht im Fokus der Berliner Polizei. 872 Straftaten zählen die Ermittler in diesem Zusammenhang für das vergangene Jahr. Sie setzen vor allem auf "Kontrolldruck". Allerdings kann diese Taktik auch nach hinten losgehen.
Berlin gehört im Bundesvergleich bekanntermaßen zu den Hochburgen, wenn es um sogenannte Clankriminalität geht. Das bestätigte das Bundeskriminalamt zuletzt im vergangenen Jahr: Rund 70 Prozent der Verfahren zu organisierter Kriminalität, die im Zusammenhang mit Clans stehen, verteilen sich allein auf Niedersachsen, Bremen, Nordrhein-Westfalen und Berlin. 2022 zählte das Landeskriminalamt in der Hauptstadt 872 Straftaten und 89 Ordnungswidrigkeiten in diesem Zusammenhang. Das geht aus dem heute veröffentlichten Lagebericht "Clankriminalität des Landeskriminalamtes Berlin" hervor, der ntv.de vorliegt. Die Ermittler melden 303 Verdächtige. Die meisten von ihnen sind bereits mehrfach in Erscheinung getreten. Allen voran geht ein 22-jähriger Intensivtäter mit allein 43 Taten im vergangenen Jahr - von Geldwäsche bis zum Raubüberfall.
Offiziell ist die Clankriminalität im vergangenen Jahr gesunken. 2021 zählten die Beamten noch 1096 Fälle in diesem Bereich. Allerdings, so das LKA, sei dies vor allem mit der hohen Zahl an Verstößen gegen das Infektionsschutzgesetz zu erklären, die 2022 wegen der Lockerungen nicht mehr erfasst wurden. Damit hätte sich an der Fallzahl kaum etwas getan. In den meisten Fällen handelt es sich um Betrugs-, Verkehrs- und sogenannte Rohheitsdelikte, also etwa Körperverletzungen. Auch Drogendelikte, Raubdelikte und Geldwäsche machen einen wesentlichen Teil der Clankriminalität aus. Drei Tötungsdelikte wurden gezählt. Allerdings fallen auch Kfz-Delikte, Fälle von Amtsanmaßung oder etwa Insolvenzverschleppung in die Statistik.
Für die Berliner Polizei zählt ein Fall dann zur Clankriminalität, wenn die Clanzugehörigkeit eine entscheidende Rolle bei der Tat gespielt hat. Der Clan selbst sei durch die Familienzugehörigkeit, eine hierarchische Struktur sowie das gemeinsame Werteverständnis geprägt. Die Erfassung von Clankriminalität ausschließlich über den Nachnamen und die Staatsangehörigkeit wird von vielen Seiten kritisiert. Oftmals landen so auch Straftaten und Ordnungswidrigkeiten in der Statistik, die mit organisierter Kriminalität nichts zu tun haben. Bei der Berliner Polizei gilt daher seit Januar 2022 eine - wenn auch äußerst vage - Einschränkung: "Die Taten müssen im Einzelnen oder in ihrer Gesamtheit für das Phänomen von Bedeutung sein." Wann dies der Fall ist, entscheiden die Beamten.
Prävention und Strafverfolgung
Einige eindeutige Beispiele werden im Bericht genannt. Demnach wurde etwa ein Minderjähriger in Berlin-Neukölln verschleppt und misshandelt. Der Polizei zufolge brachten die Täter den Jungen in einen Keller, wo ihn bis zu elf Personen verprügelten, erniedrigten und mit Waffen bedrohten. Grund für die brutale Tat war laut der Polizei eine Beziehung zwischen dem Opfer und einer Jugendlichen aus der Familie der Tatverdächtigen. Bezeichnend für die Clankriminalität, so das LKA, sei auch, dass die eigenen Normen über die in Deutschland geltende Werteordnung gestellt werden. Der Minderjährige zeigte die Tat im vergangenen Sommer trotz Einschüchterungsversuchen bei der Polizei an. Die Ermittlungen in dem Fall laufen noch, ein Strafprozess habe noch nicht begonnen, wie die Staatsanwaltschaft gegenüber ntv.de erklärte.
Die Berliner Polizei verfolgt bereits seit 2019 einen "ressortübergreifenden Bekämpfungsansatz" von Clankriminalität. "Als Rechtsstaat bekämpfen wir sogenannte Clankriminalität mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln", betonte Innensenatorin Iris Spranger gegenüber ntv.de. "Zum einen dadurch, dass wir kriminelle Karrieren, ein Hineinwachsen in die Kriminalität verhindern und den Ausstieg ermöglichen. Zum anderen durch nachhaltig wirkende Instrumente der Strafverfolgung."
Im jüngsten Lagebericht wird zwar erwähnt, dass der Bezirk Neukölln ein Ausstiegskonzept entworfen und einige ausstiegswillige Personen "eng begleitet" habe. Allerdings sei das Projekt noch nicht gestartet. Es fehlt offenbar an einer "geeigneten personellen und finanziellen Aufstellung". Im Zentrum des Kampfes gegen Clankriminalität, das wird in dem Bericht deutlich, steht ein "Fünf-Punkte-Plan" mit klarem Tenor: mehr Kontrollen, mehr Strafverfolgung, mehr Repressionen.
Nur 0,2 Prozent aller Straftaten
Damit steht Berlin keineswegs allein da. Längst haben auch andere Länder eine "Null Toleranz"-Strategie erklärt - im Bundesinnenministerium werden bereits Pläne für eine "Allianz gegen Clans" geschmiedet. Maßnahmen in diesem Bereich verlaufen stets öffentlichkeitswirksam: Immer wieder begleiten Kamerateams die Polizei bei Razzien in Shisha-Bars. Und als Bundesinnenministerin Nancy Faeser vor wenigen Tagen verkündete, sie wolle Clanmitglieder leichter abschieben, sorgte das für Aufsehen und Diskussionen.
Zumindest in Berlin dürfte der Plan der Ministerin in den allermeisten Fällen bereits an der Staatsangehörigkeit scheitern. Die meisten Tatverdächtigen im Zusammenhang mit Clankriminalität, insgesamt 63 Prozent, haben laut des jüngsten Lageberichts die deutsche oder eine "ungeklärte" Staatsangehörigkeit. Damit scheidet eine Abschiebung von vornherein aus oder wird äußerst kompliziert.
Und noch etwas lässt sich dem Lagebericht entnehmen: Die 872 Fälle von Clankriminalität machen nicht einmal 0,2 Prozent aller Straftaten aus dem vergangenen Jahr in Berlin aus. Die ermittelten Verdächtigen in Bezug auf Clankriminalität entsprechen gerade einmal 0,4 Prozent aller Tatverdächtigen aus dem vergangenen Jahr.
Polizei setzt auf Kontrolldruck
Lagebilder transportieren oft das Bild einer großen Problemlage, erklärt der Kriminologe Thomas Müller im Gespräch mit ntv.de. "Dabei geht es eigentlich um einen sehr kleinen Teil der Straftaten." Es sei grundsätzlich wichtig, Erfolge und den aktuellen Stand mittels eines Lageberichts zu bestimmen, sagt Müller, der in der Vergangenheit selbst als Kriminalbeamter im Bereich der organisierten Kriminalität ermittelte. Allerdings müsse man sich auch darüber im Klaren sein, wie diese Lagebilder zustande kommen. Durch ihren Fokus auf Clankriminalität generiere die Polizei gewissermaßen Fallzahlen. "Sie kontrolliert in diesem Bereich besonders stark und häufig. Dadurch steigen natürlich die Zahlen", erklärt Müller. "Mehr als in Bereichen, die nicht so stark kontrolliert werden."
Tatsächlich wurden im vergangenen Jahr 606 Objekte kontrolliert, wie aus dem Lagebericht hervorgeht. Meistens handelte es sich um Shisha-Bars, Cafés oder Bars. "Durch den Kontrolldruck auf einschlägige Treffpunkte" sollen vor allem illegale Geschäftsfelder und Geldwäsche aufgedeckt werden, heißt es. Die "Politik der 1000 Nadelstiche" wurde diese Taktik mal vom nordrhein-westfälischen Innenminister Herbert Reul getauft.
Auf der einen Seite geht es sicherlich darum, möglichst viele Beweise gegen kriminelle Clanmitglieder zu sichern, denn vor allem Zeugenaussagen sind wegen Einschüchterungen durch die Täter eher rar. Auf der anderen Seite stellt sich die Frage nach der Verhältnismäßigkeit, wenn die Behörden ständig Dutzende Bars, Cafés und Restaurants auf den Kopf stellen. Es gehe vor allem darum, was tatsächlich gefunden wird, sagt Müller. Die Berliner Polizei fand im vergangenen Jahr vor allem Rauschgift und insgesamt 52.255 Euro Bargeld, offenbar der Erlös aus dem Drogenhandel. Auch unversteuerte Zigaretten, Wasserpfeifentabak und unerlaubte Geldspielgeräte wurden beschlagnahmt.
Diskriminierung und Abschottung
Vor dem Hintergrund der "oft eher geringen Erfolge" der Polizei hält Müller die ständigen Durchsuchungen zumindest für fragwürdig. "Vor allem, weil die Schäden, die dadurch angerichtet werden, viel größer sind als der Nutzen, also die Kriminalität, die tatsächlich aufgedeckt wird." Die Praxis führe zur Diskriminierung vieler unschuldiger Menschen, erklärt der ehemalige Polizeibeamte. Das sei auch für die Polizeiarbeit ein großes Problem.
"Natürlich fangen diese Menschen an, sich von der Gesellschaft abzuschotten, wenn ihr Kiosk ständig von der Polizei durchkämmt wird", führt Müller aus. "Wenn das geschieht, bekommen wir keine Informationen mehr aus diesen Kreisen. Ohne diese Informationen ist die Polizei jedoch so gut wie blind, denn Kriminalität wird zu 95 Prozent durch Anzeigen von Bürgern aufgedeckt."
Die vielen Durchsuchungen und der Eindruck eines pauschalen Verdachts können also eine Art Teufelskreis in Gang setzen. Der vom LKA angestrebte "Kontrolldruck" hat, das macht Müller klar, seine Grenzen. Trotz des immensen öffentlichen Drucks müssen die Strafverfolgungsbehörden auch im Kampf gegen Clankriminalität die Balance wahren. Sowohl im Sinne der Rechte Unschuldiger als auch im Sinne der polizeilichen Aufklärung.
Quelle: ntv.de