Im Namen des Verfassungsfeindes? Wie es Rechtsextreme auf die Richterbank schaffen


Rechtsextreme Organisationen wollen nicht mehr nur demonstrieren, sondern auch in den Institutionen des Staates mitmischen.
(Foto: IMAGO/aal.photo)
Der Staat muss Zehntausende Schöffenposten besetzen - Bewerber gibt es allerdings kaum. Diese Not wollen vor allem die Rechten für sich nutzen. Ihre Chancen, tatsächlich auf der Richterbank zu landen, stehen bisher gut. Denn die Schlupflöcher des Staates sind riesig.
Auf der Richterbank im Landgericht Erfurt fällt Gitta K. Anfang des Jahres kaum auf. Die Schöffin trägt einen grauen Blazer, wie so oft vor der Verhandlung justiert sie ihre Leselampe neu. Die Wahlperiode für Schöffinnen und Schöffen läuft bereits seit vier Jahren und endet im Dezember. K. ist also eine erfahrene Laienrichterin, sie hat schon über das Schicksal vieler Angeklagter mitentschieden. Zunächst sieht es so aus, als wäre auch dieser Fall keine Ausnahme: Es geht um drei mutmaßliche Schleuser, die rund 100 Menschen aus Nicht-EU-Staaten Jobs in Deutschland verschafft haben sollen. Der Prozess hat gerade erst begonnen, da fällt einem Journalisten im Saal - zufällig - etwas auf.
Der Zuschauer hat Gitta K. erkannt - und zwar nicht nur als Mathe- und Physiklehrerin aus Erfurt, als die sie dem Gericht bekannt ist. Der Journalist erkennt in K. auch eine Aktivistin der rechtsextremen Szene. Im vergangenen November etwa organisierte sie eine Großdemonstration, auf der Thüringens AfD-Chef Björn Höcke mit "Compact"-Herausgeber Jürgen Elsässer und Pegida-Initiator Lutz Bachmann marschierte, wie der MDR berichtete. Recherchen des Senders zufolge verbreitet K. zudem Verschwörungstheorien der Querdenken-Bewegung, des Reichsbürgermilieus und sowie massenhaft russische Propaganda. All dies war für das Landgericht Erfurt Grund genug, den Prozess auszusetzen und im März mit anderen Schöffen neu zu beginnen.
Von denen hat Deutschland allerdings alles andere als genug, wie derzeit deutlich wird. Für die nächste Amtszeit von 2024 bis 2028 sucht der Staat händeringend nach Kandidatinnen und Kandidaten - es gilt, allein in den Strafgerichten rund 60.000 freie Posten zu besetzen. Der Staat wirbt also fleißig für das Amt. Zudem kann er Bürger aus dem Melderegister für den Posten rekrutieren - die ersten Briefe mit solchen Verpflichtungen wurden bereits verschickt. Denn die freiwilligen Bewerbungen für das Amt reichen bei Weitem nicht aus. Diese Not wissen vor allem Rechte für sich zu nutzen.
Die Macht der Laien
"Jetzt als Schöffe bewerben, um die Justiz nicht den linken Hobby-Richtern zu überlassen", fordert etwa die rechtsextremistische Partei "Freie Sachsen" auf Telegram. Ihre Intention liefert sie direkt mit: Man wolle "die Justiz korrigieren" und verhindern, "dass ein kriminalisierter Spaziergänger beispielsweise drakonische Strafen kriegt" oder, dass "grüne Richter" Geflüchteten "wieder einmal einen kulturellen Strafrabatt" geben. Für die Rechtsextremisten, so zitiert die "Welt" den Hamburger Verfassungsschutz, sei die Schöffenrolle so interessant, weil sie ihnen gesellschaftlichen Einfluss ermöglicht, ohne dass sie über politische Mehrheiten verfügen müssen. Das Ziel sei es, die Rechtsprechung im Sinne ihrer Ideologie zu beeinflussen, lautet der Zeitung zufolge die Einschätzung des hessischen Verfassungsschutzes.
Möglich wäre dies. Denn die Stimme eines ehrenamtlichen Richters zählt genauso viel wie die des Berufsrichters. In vielen Strafverfahren sind die Laien sogar in der Überzahl. Sie könnten den Volljuristen also überstimmen, für einen Freispruch sorgen oder die Strafe deutlich geringer ausfallen lassen. In den meisten Verfahren ist allerdings das Gegenteil der Fall: Die Schöffen tendieren zu deutlich härteren Strafen, wie eine Untersuchung der Strafrechtlerin Elisa Hoven zeigt, über die die "Süddeutsche Zeitung" berichtet. Demnach nehme die Juristin bei den Laienrichtern eine gewisse Punitivität - Straflust - wahr. Für die Angeklagten führt das Zutun der Schöffen also eher zu einer höheren Strafe.
Grundsätzlich ist die Verschiebung des Strafmaßes durch die Schöffen kein Problem, sondern genau so gewollt. Denn jedes Urteil ergeht "im Namen des Volkes" - die Aufgabe der Schöffen ist es, dieses zu repräsentieren. Sie bringen die Meinung der durchschnittlichen Bevölkerung auf die Richterbank, gewissermaßen erden sie die Justiz. Allerdings funktioniert dieses Konzept nur solange, wie die ehrenamtlichen Richter auf dem Boden des Grundgesetzes stehen. Wenn Laienrichter die freiheitlich demokratische Grundordnung ablehnen, ist das wichtigste Schutzrecht der Angeklagten nicht mehr gesichert: Die Gleichheit vor dem Gesetz. Oder anders: Eine Strafe darf sich lediglich an der Schuld eines Menschen orientieren - nicht an dessen kulturellem Hintergrund. Wenn nun aber Menschen wie Gitta K., die in ihrer Freizeit NPD-Veranstaltungen besuchen, über die Strafe entscheiden, ist dieser essenzielle Grundsatz offensichtlich nicht mehr garantiert.
Die Schlupflöcher des Staates
Trotzdem ist Gitta K. bei Weitem kein Einzelfall auf Deutschlands Richterbänken. Vor ein paar Jahren fiel in Berlin eine Schöffin auf, die Asylbewerber auf Facebook als "Halbwilde und Tiere" bezeichnete. In Essen gab ein ehrenamtlicher Richter selbst zu, sowohl AfD- als auch NPD-Mitglied zu sein und in Stuttgart urteilte ein Laienrichter, der seit 1989 Mitglied einer Neonazi-Rockband war. Nach diesem Fall stellte das Bundesverfassungsgericht klar: Nicht nur hauptamtliche, sondern auch ehrenamtliche Richter unterliegen einer Pflicht zur besonderen Verfassungstreue. Schöffen und Schöffinnen wie etwa Gitta K. nimmt der Staat nicht hin.
Allerdings unternahm er bisher auch kaum Anstrengungen, Rechtsextremen den Weg auf die Richterbank zu versperren. Bewerberinnen und Bewerber um das Schöffenamt müssen lediglich eine Din A4-Seite ausfüllen: Neben persönlichen Daten wie Name und Anschrift werden mögliche Vorstrafen oder Insolvenzen sowie ausreichende Deutschkenntnisse abgefragt. Ob der Bewerber mal bei der Stasi war, möchte der Staat wissen. "Aber schon das Feld, in dem man seine Kandidatur begründet, ist freiwillig", erklärt Marko Goschin, Vorsitzender der Vereinigung Ehrenamtlicher Richterinnen und Richter Mitteldeutschlands. "Es gibt weder die Abfrage der politischen Gesinnung der Bewerber noch eine vorgeschriebene Prüfung der Kandidaten auf Verfassungstreue", sagt er im Gespräch mit ntv.de.
Für die Überprüfung verantwortlich sind die Kommunen. Sie entscheiden, "wie intensiv man sich die Menschen anschaut und ob man den Namen auch mal googelt oder nicht". Im Moment, so kritisiert der Goschin, verlaufe die Überprüfung allenfalls "sehr, sehr grob". Die rechtsextremistische Gesinnung eines Bewerbers müsste förmlich ins Auge stechen, damit dieser abgelehnt wird. Der Schöffenvertreter fordert daher, dass die Wahl der Laienrichter nicht mehr als "lästige Pflichtaufgabe" wahrgenommen wird. Mehr Engagement der Verantwortlichen, etwa durch verpflichtende Schulungen und mehr Zeit, dürften die Sorgfalt bei der Schöffenauswahl schon deutlich erhöhen.
Der Staat, so der Eindruck, hat bisher so gut wie jeden genommen. Das soll sich nun jedoch ändern. Jüngst verkündete Bundesjustizminister Marco Buschmann, die Verfassungstreue von ehrenamtlichen Richtern auch gesetzlich verankern zu wollen. Das ändert zwar nichts an der ohnehin bestehenden Regel, betont aber die Haltung des Bundes. Niedersachsen setzt künftig auf Abschreckung: Bewerber sollen schriftlich erklären, dass sie sich zu der freiheitlich-demokratischen Grundordnung bekennen. Bremen geht noch einen Schritt weiter und schuf kürzlich die Gesetzesgrundlage dafür, dass sich Kommunen bei Zweifeln an einem Bewerber auch Informationen vom Verfassungsschutz einholen können.
Rechtsextreme Schöffen loswerden?
Der Staat will den Bewerbern um ein Schöffenamt besser auf den Zahn fühlen. Er wird jedoch nicht jede oder jeden mit einer extremistischen Gesinnung herausfiltern können. Nicht alle posaunen ihre Einstellung im Internet heraus - und schließlich lässt sich auch ein Din A4-Papier leicht belügen. Was passiert, wenn die extremistische Gesinnung eines Schöffen erst auffällt, wenn dieser längst im Amt ist, wie etwa im Fall von Gitta K.?
"Bei krassen Fällen wird es keine großen Probleme geben", sagt Susanne Müller, Vorsitzende Richterin am Landgericht Freiburg, im Gespräch mit ntv.de. Im Amtsenthebungsverfahren werde etwa "jedes NPD-Mitglied problemlos aus seinem Amt als Schöffe enthoben werden". In weniger klaren Fällen sei es jedoch kaum so leicht. Denn auch die Meinungsfreiheit der Schöffen wiege schwer. "Es gibt diesbezüglich noch einen großen Graubereich in der Rechtsprechung", erklärt Müller. So müsse von Einzelfall zu Einzelfall entschieden werden. Nicht jede islam- oder migrationskritische Äußerung aus der Situation heraus müsse zu einer Amtsenthebung führen.
Im Fall von Gitta K. aus Erfurt hat der Schöffenverband um Marko Goschin eine sorgfältige Prüfung und "gegebenenfalls Konsequenzen" verlangt. Der Fall liegt nun beim Oberlandesgericht Thüringen. Die Entscheidung, ob Gitta K. bis zum Ende des Jahres weiter als Schöffin urteilen darf, wurde jedoch noch nicht getroffen, wie das Gericht auf Nachfrage von ntv.de mitteilte. Selbst, wenn sie ihrem Amt enthoben wird, ist es für all die Entscheidungen, an denen sie die vergangenen vier Jahre mitgewirkt hat, allerdings ohnehin zu spät. Gegen diese könne man nicht mehr vorgehen, erklärt Müller. "Die sind alle rechtkräftig."
Quelle: ntv.de