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"Jetzt muss ich sterben"Wie fühlt sich eine Nahtoderfahrung an?

14.12.2025, 16:23 Uhr Aljoscha-PrangeVon Aljoscha Prange
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Das Licht am Ende des Tunnels ist ein Motiv in vielen Berichten über Nahtoderfahrungen. (Foto: Getty Images/iStockphoto)

Was passiert bei Nahtoderfahrungen im Gehirn? Was hat es mit dem Licht am Ende des Tunnels auf sich? Und wie fühlt es sich an, an der Schwelle des Todes zu stehen? Ein Betroffener und zwei Experten geben Auskunft.

"Als Erstes war da die Erfahrung, zu sterben. Meine Gliedmaßen wurden kalt, das Herz hörte auf zu schlagen und ich spürte panische Angst." So beschreibt der Philosoph und Jesuit Godehard Brüntrup im Gespräch mit ntv.de den Beginn seines Nahtoderlebnisses. Mit Ende 20 erlitt er infolge einer schweren Infektion einen Herzstillstand und musste im Krankenhaus reanimiert werden. Der heute 68-Jährige sagt, er könne sich noch gut daran erinnern. "Es war die krasseste Erfahrung meines Lebens. Das vergisst man nicht."

Was Brüntrup als "panische Urangst" bezeichnet, sei innerhalb eines Sekundenbruchteils in das genaue Gegenteil umgeschlagen, nämlich in eine "Erfahrung absoluter Gelassenheit. Keine Gedanken, keine Gefühle, nur noch reines Bewusstsein - wie ein kristallklarer Diamant." Dann aber sei ihm plötzlich doch ein Gedanke gekommen, genauer gesagt eine Frage: "Bin ich jetzt tot, oder was ist los?" Doch auch dieser Moment hielt nicht lange an und wurde von dem Gefühl abgelöst, den eigenen Körper zu verlassen. Brüntrup erzählt, wie er sich mehrere Meter über seinem Körper befand, sich selbst sah und von oben beobachten konnte, wie die Ärzte ihn wiederbelebten.

Das zentrale und prägendste Erlebnis sei aber die anschließende Lebensrückschau gewesen. In "minutiösen Details und fotorealistischen Bildern" sei er noch einmal durch das eigene Leben gegangen, bis in die frühe Kindheit hinein. Und in der Rückschau habe er sich die Frage gestellt, wie er sich anderen Menschen gegenüber verhalten hat. "Schulische oder sportliche Leistungen, der schönste Urlaub, die intensivste sexuelle Erfahrung - das war alles kein Thema mehr. Sondern nur die Frage, wo ich geliebt und wo ich verletzt habe."

Und auf einmal sei da ein Tunnel gewesen, erzählt Brüntrup. Am anderen Ende angekommen, sei alles "wahnsinnig hell" und er selbst von "anderen Wesen" umgeben gewesen. "Ich habe gespürt, dass ich nicht allein war. Aber ich habe mich mit niemandem lange unterhalten, weil ich sofort von dort weitergegangen bin in eine tiefe Erfahrung, die mein Leben dann ziemlich umgekrempelt hat. Nämlich das Eingebettetsein in überwältigende Liebe, als wäre ich in einen unendlichen Ozean aus Liebe eingetaucht."

Damit habe sein Nahtoderlebnis geendet. "Ganz plötzlich wachte ich im Schockraum auf. Genauso ruckartig, wie ich aus den Schmerzen in diese tiefe Gelassenheit kam, kam ich auch wieder in die Welt zurück."

"Jetzt muss ich sterben"

Vieles von dem, was Brüntrup beschreibt, lasse sich in unzähligen Schilderungen von Nahtoderlebnissen wiederfinden, sagt die Soziologin Ina Schmied-Knittel im ntv.de-Interview. Sie hat Erfahrungsberichte von Betroffenen analysiert und ist dabei auf mehrere wiederkehrende Motive gestoßen, etwa Lebensrückschauen oder außerkörperliche Erfahrungen.

"Viele Leute beobachten diese sehr kritische Situation, in der sie sich befinden, aus einer Perspektive außerhalb ihres Körpers oder von oben herabschauend. Sie beobachten beispielsweise Rettungsmaßnahmen oder aber auch, wie sie selbst ertrinken." Auch Brüntrups Schilderung des Gefühls, das eigene Sterben zu erleben, sei ein typisches Element. "Was alle Erfahrungen eint, ist das subjektive Gefühl, in der Nähe des Todes gewesen zu sein und die Überzeugung 'jetzt muss ich sterben'", so Schmied-Knittel.

Doch so viele Überschneidungen es in den Berichten gibt, so viele Unterschiede gebe es auch. "Die Bilder sind super individuell, es gibt nicht das eine große Motiv, das sich durch alle Erzählungen zieht. Es ist von Bericht zu Bericht unterschiedlich, wie die Nahtoderfahrungen ausgesehen und sich angefühlt haben."

Vor allem fielen nicht alle Berichte so positiv aus wie die von Godehard Brüntrup. "Es ist bei Weitem nicht so, dass alle Leute eine sehr angenehme, friedvolle oder sogar euphorische Erfahrung beschreiben." Sondern es seien auch Erfahrungen dabei, die angstbesetzt sind und von negativen Emotionen begleitet werden.

Deutliche Ost-West-Unterschiede

Wie Nahtoderfahrungen erlebt und beschrieben werden, hänge laut Schmied-Knittel von verschiedenen Faktoren ab, wie popkulturellen Einflüssen, persönlichen Erfahrungen oder religiösen Prägungen. So zeigten sich etwa in Nahtod-Berichten von Menschen aus West- und Ostdeutschland deutliche Unterschiede. "Personen, die in der DDR Nahtoderfahrungen gemacht haben, berichteten anders darüber als Personen aus Westdeutschland."

Während in der BRD klassische Nahtodmotive wie Außerkörperlichkeit oder Licht am Ende eines Tunnels und positive Zuschreibungen eher auftraten, seien die Berichte aus der ehemaligen DDR weitaus diffuser und viel häufiger negativ und angstbesetzt.

In Westdeutschland sei das Thema Nahtoderfahrung als Phänomen insbesondere in den 1970er-Jahren aufgekommen, vor allem im esoterischen Feld und in der Populärkultur, später auch in Spielfilmen wie "Flatliners". In der DDR habe es hingegen kaum Bücher, Fernsehbeiträge oder Artikel zum Thema gegeben. "Viele Menschen in der DDR hatten nicht die Möglichkeit, sich zu informieren und Betroffene wussten oft schlicht nicht, was sie da überhaupt erlebt haben." Dementsprechend fielen die Berichte wesentlich abstrakter und weniger klar strukturiert aus und ähnelten oft eher "surrealen, traumähnlichen Sequenzen".

Außerkörperlichkeit, Lebensrückschau, grelles Licht, Begegnungen mit mystischen Wesen: Diese und weitere Motive finden sich auch auf der sogenannten Greyson near-death experience scale (deutsch: Greyson Nahtoderfahrungs-Skala, kurz: NDE-scale) des US-amerikanischen Psychiaters Bruce Greyson wieder. In 33 Schritten soll sie anhand von kurzen Fragen dabei helfen, die Tiefe und Intensität der Erfahrung festzustellen. Je mehr der aufgelisteten Elemente auftreten, desto tiefer die Erfahrung.

Laut dem Neuropsychologen Christian Hoppe von der Uniklinik Bonn sind all diese Phänomene "Inhalte außergewöhnlicher Bewusstseinszustände von lebenden Menschen mit hinreichend intakten, aber akut funktionsveränderten Gehirnen". So könnten etwa die Hirnbereiche für die Erinnerungsbildung intakt sein, während sensorische Regionen etwa für die Wahrnehmung der Umgebung funktionsgestört sind, erklärt er gegenüber ntv.de. So komme es aus medizinischer Sicht zu "Halluzinationen einer andersartigen Realität".

Wichtig sei, zu betonen, dass der Hirntod, also der endgültige, vollständige und unwiderrufliche Untergang aller Hirnfunktionen, das Minimalkriterium für den Tod sei. Menschen mit Nahtoderfahrungen seien also zu keinem Zeitpunkt wirklich tot gewesen. Nahtoderfahrungen können also keinen Aufschluss darüber geben, ob es ein Leben nach dem Tod gibt, wie es im Jenseits aussieht oder wie es sich anfühlt, tot zu sein. "Es ist zwar absolut denkbar, dass beim Sterben Nahtoderlebnisse oder überhaupt außergewöhnliche Bewusstseinszustände auftreten. Aber diese werden uns später von den Verstorbenen nicht mehr berichtet, sodass die Zurückbleibenden davon nicht sicher wissen können", so Hoppe.

Die Hirnforschung könne nur wenig Hoffnung auf eine Fortsetzung unseres bisherigen Lebens und Erlebens nach dem Tod machen. Denn: "Ohne Hirn ist alles nichts." Es sei aber niemandem genommen, "an Wunder oder ein göttliches Eingreifen" zu glauben, sagt Hoppe.

"Denke ich an den Tod, freue ich mich"

Godehard Brüntrup bezeichnet seine Nahtoderfahrung als genau das: "eine Gotteserfahrung." Eine Erfahrung, die ihn und seine Sicht auf das Leben nachhaltig verändert hat.

"Meine Werteordnung ist jetzt eine andere", sagt er im Interview. Berufliche Leistung und Erfolge seien in den Hintergrund gerückt. Viel wichtiger seien ihm nun "liebevolle Beziehungen, tiefes Wissen und Weisheit". Auch seine Empathiefähigkeit sei gestiegen. Er könne die Gefühle und Stimmungen anderer Menschen heute viel besser lesen und habe ein gesteigertes Gespür für die Schmerzen und Leiden anderer.

Auch sein Blick auf den Tod habe sich grundlegend verändert. Seine positive Nahtoderfahrung habe ihm die Angst davor genommen. "Ich bin nicht lebensmüde. Ganz im Gegenteil. Ich bin sehr aktiv und stehe mit beiden Beinen mitten im Leben. Ich warte nicht auf den Tod. Aber wenn ich an den Tod denke, freue ich mich."

Quelle: ntv.de

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