Aktion gegen BevölkerungsschwundWillkommen zum "Probewohnen" in der Ost-Provinz

Es klingt in manchen Ohren wie ein PR-Gag, ist aber gar nicht so gemeint und funktioniert auch. Städte in Brandenburg laden Bürger für zwei Wochen ein, das Leben in der Kleinstadt zu probieren - offenbar mit Erfolg. In Guben gibt es schon "Probewohnen Staffel zwei".
Es passiert nicht oft, dass Eisenhüttenstadt international Schlagzeilen macht. So wie im November 2011, als Tom Hanks während einer Drehpause zu "Cloud Atlas" von Berlin aus in den Ort fuhr, um sich die architektonischen Besonderheiten der komplett am Reißbrett entworfenen Stadt zeigen zu lassen. In der Talkshow von David Letterman erzählte er wenig später Millionen Amerikanern begeistert von "Iron-Hut-City", diesem "faszinierenden" Flecken Erde, "den ich liebend gern besuche". Was er im Sommer 2014 dann auch wirklich erneut tat.
In einem Mix aus Ironie und Bewunderung beschrieb der US-Schauspieler den Ort nahe der polnischen Grenze als "von den Kommunisten" Anfang der 50er-Jahre errichtete "Modellstadt" und die Idee dahinter. Sie sollte den Menschen zeigen, "wie großartig und wundervoll das Leben ist, das ihnen der Sozialismus beschert". Eisenhüttenstadt steht in weiten Teilen unter Denkmalschutz. Wer sich wie Hanks für Architektur - speziell der DDR - interessiert, ist hier bestens aufgehoben. Aber dort wohnen?
Die Kommune leidet wie so viele andere Städte in Ostdeutschland unter Bevölkerungsschwund. Kurz vor der Wende lebten dort rund 53.000 Menschen, inzwischen sind es knapp 25.000. Nun versucht Eisenhüttenstadt, die Einwohnerzahl mit einem recht ungewöhnlichen Projekt zu erhöhen: Unter dem Slogan "Jetzt Pläne schmieden" bietet es ein zweiwöchiges "Probewohnen" an, um die Vorteile einer Kleinstadt kennenzulernen. Im vertrauten Du wenden sich die Initiatoren an potenzielle Rückkehrer sowie Leute "auf der Suche nach mehr Raum und Ruhe" oder "einem neuen Lebensmittelpunkt".
"Kein Einwanderungs- oder Visaprogramm"
Um das Konzept sowohl vor Missbrauch als auch Diffamierung zu schützen, konnten sich bis 5. Juli für zwei Wohnungen in kommunalem Besitz ausdrücklich nur deutsche Staatsbürger oder EU-Ausländer bewerben, die sehr gut Deutsch sprechen, "über eine gültige Arbeitserlaubnis verfügen und ernsthaft überlegen, dauerhaft nach Eisenhüttenstadt zu ziehen". Auf der Webseite der Stadt heißt es: "Das Projekt ist kein Einwanderungs- oder Visaprogramm. Wir stellen keine Visa, Aufenthalts- oder Arbeitsgenehmigungen aus." Und weiter: "Es handelt sich nicht um ein Urlaubs-, Work & Travel- oder Studienprogramm."
Ein Blick in soziale Medien macht deutlich, dass die Stadt bei ihrem Werben nicht nur gegen das Image der Provinz, sondern auch gegen Urteile und Vorurteile über den Osten zu kämpfen hat. Bei der Bundestagswahl im Februar war die AfD mit rund 40 Prozent Wähleranteil bei Erst- und Zweitstimmen jeweils doppelt so stark wie SPD und CDU. "Wer will schon in einer AfD-Hochburg leben. Kann für sehr viele Menschen auch gefährlich sein", heißt es etwa. Oder es wird der Vorwurf erhoben, ein Großteil der Eisenhüttenstädter wolle "doch das Gegenteil" von Zuzug. "Die wollen doch Menschen rausschmeißen!"
Die Initiatoren um SPD-Bürgermeister Frank Balzer lassen bei ihrer Kampagne die Politik außen vor. Sie setzen auf die Vorteile der Kleinstadt: "Unkompliziert, inspirierend und ganz in deinem Tempo." Mit der Resonanz zeigte sich Balzers Sprecher Valentin Franze zufrieden. Er verwies auf Berichte von CNN, dem britischen "Guardian" und "weiteren internationale Medien von Amerika bis Australien". Schon bis Mitte Juni verzeichnete das Rathaus laut Franze mehr als "1000 Anfragen und Bewerbungen". Die Entscheidung fällt in naher Zukunft. Wer den Zuschlag erhält, hat der Webseite zufolge Pflichten zu erfüllen: Sie oder er habe die Wohnung "tatsächlich zu nutzen und pfleglich zu behandeln", sich "aktiv in Stadt und Projekt einzubringen", "an zwei Feedback- oder Kennenlernformaten teilzunehmen".
"Liebesbrief an Eisenhüttenstadt" gewünscht
Nach den 14 Tagen sind die Gäste dazu angehalten, einen persönlichen "Liebesbrief an Eisenhüttenstadt" zu verfassen. Doch was, wenn sie sich unwohl fühlten und keine Liebe entflammt ist? "Uns geht es dabei nicht um reine Lobhudelei, sondern um echte Eindrücke und ehrliche Stimmen, formuliert mit Offenheit und einem Augenzwinkern", teilte Franze ntv.de mit. Der gewünschte Liebesbrief sei "ein kreatives Element", in dem die Teilnehmer "ihre ganz persönliche Perspektive" auf die Stadt "in Form von Wertschätzung, Überraschung, kritischer Reflexion oder auch konstruktivem Feedback" ausdrücken könnten.
Als Vorbild dient Guben, eine halbe Stunde mit dem Auto südlich von Eisenhüttenstadt gelegen. Dort ging im April die Bewerbungsrunde für "Probewohnen Staffel zwei" zu Ende, wie Bürgermeister Fred Mahro augenzwinkernd sagte. 35 Bewerbungen sind nach Angaben seiner Pressestelle eingegangen, meist von Pärchen und Familien, oft aus Berlin. Hauptmotivation offenkundig: Großstadtflucht. "Wir bieten nicht nur bezahlbaren Wohnraum und kurze Wege, sondern auch ein herzliches Miteinander, das in Großstädten zunehmend verloren geht", erklärte der CDU-Politiker auf Anfrage.
Der Bürgermeister und seine Mitstreiter können gut damit leben, dass der eine oder die andere einen PR-Gag wittert. In "Staffel eins" wohnten nach Angaben seiner Sprecherin Laura Lehmann von April bis Ende September 2024 insgesamt 33 Leute "für mehrere Wochen in möblierten Gästewohnungen" in kommunalem Besitz. Dass eine kleine Stadt wie Guben mit ihren etwas mehr als 16.000 Einwohnern "überhaupt als alternativer Wohnort - insbesondere im bundesweiten Vergleich - wahrgenommen" werde, sei erfreulich, erklärte sie.
Bewerbungen aus Übersee
Als "besonders erfreulich" bezeichnete Lehmann das gewachsene Interesse am Probewohnen in diesem Jahr: Ihren Worten zufolge gingen nicht nur Anfragen "aus dem gesamten Bundesgebiet und der Europäischen Union ein, sondern sogar aus Übersee - unter anderem aus Brasilien". Die Bandbreite beschrieb die Sprecherin so: "Familien mit schulpflichtigen Kindern über beruflich flexible Einzelpersonen bis hin zu Senioren, die auf der Suche nach einer bezahlbaren und ruhigen Wohnumgebung waren."
Viele zeigten sich überrascht, wie einfach und unkompliziert das Leben in einer Kleinstadt sein könne, sagte die Sprecherin. "Der stetige Konsumfluss, wie man ihn aus urbanen Ballungsräumen kennt, ist in Guben quasi nicht vorhanden - was sowohl Vor- als auch Nachteile mit sich bringt. In Bezug auf das tägliche Stresslevel jedoch überwiegen ganz klar die Vorteile." Kein Wunder also, dass sechs Bürger, die 2024 zur Probe in Guben wohnten, tatsächlich mit Sack und Pack nach Guben zogen.