Politik

Ein Jahr Krieg in der Ukraine "Russland folgt einer völkischen Ideologie"

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Putin ließ sich am Mittwoch auf einer nationalistischen Veranstaltung in Moskau bejubeln.

(Foto: picture alliance/dpa/TASS)

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Putin wollte vor dem Krieg nicht verhandeln, er will es auch jetzt nicht, sagt der Politikwissenschaftler Thomas Jäger. Die Behauptung, Russland reagiere mit dem Krieg auf die NATO-Osterweiterungen, weist er zurück: "Russlands Sicherheit stand nie infrage. Bestritten wird Russland lediglich das Recht, über andere souveräne Staaten zu herrschen und in seinem regionalen Umfeld eine Einflusszone aufzubauen."

ntv.de: Lassen Sie uns über die Ursachen und über ein mögliches Ende dieses Kriegs sprechen. Worin liegen die Ursachen? Wer ist schuld an diesem Krieg?

Thomas Jäger: Schuld an dem Krieg ist Wladimir Putin, der den Krieg befohlen hat. Das hat er aus zwei Gründen getan. Der eine Grund ist ein ideologischer: Putin behauptet, es gebe eine "russische Welt", einen Schutzraum für das russische Volk, der größer ist als die Russische Föderation. Überall, wo ethnische Russen leben, stehen sie unter dem Schutz des russischen Präsidenten. Das ist Ausdruck einer völkischen Ideologie, der Russland schon eine ganze Weile folgt.

Und der zweite Grund?

Die zweite Ursache für den Krieg ist, dass das Weltbild des russischen Präsidenten eben nicht so ist, dass es eine Reihe von nebeneinander existierenden souveränen Staaten gibt, die alle mit gleichen Rechten existieren. Putin glaubt, dass große Mächte das Recht haben, in ihrem regionalen Umfeld über die kleinen Mächte zu herrschen. In seinen Augen hat Russland nicht nur das Recht, sondern sogar die historische Pflicht, seinen Einfluss auszuweiten. Zumindest so weit, wie die Sowjetunion einst herrschte.

Ist das nicht die klassische Sicht einer Supermacht aus dem Kalten Krieg?

Als die Welt in zwei Blöcke geteilt war, standen alle Staaten entweder der einen oder anderen Supermacht nahe, mehr oder weniger freiwillig. Sie lebten in deren Orbit, erhielten von ihnen Schutz. Das ist heute anders. Die Staaten sind durch die Globalisierung viel enger miteinander vernetzt, weshalb ihr Handlungsspielraum größer ist. Neben den Großmächten gibt es regionale Machtpole. Der Hauptunterschied aber ist, dass es Putin nicht nur um die Gier nach Macht geht, sondern er darüber eines der zentralen Prinzipien der Charta der Vereinten Nationen aushebelt: die territoriale Integrität von Staaten. Wenn dieser Revisionismus üblich wird, werden sich auch noch andere Staaten auf historische Grenzen berufen.

Putin argumentiert, dass die Osterweiterungen der NATO ein Grund für den Angriff auf die Ukraine waren.

Das ist reine Täter-Opfer-Umkehr. Bis 2014, bis zum russischen Angriff auf die Ukraine und der Annexion der Krim, gab es keine NATO-Truppen in Osteuropa, auch danach waren es nur wenige. Erst 2022, infolge der russischen Invasion in die Ukraine, hat die NATO ihre Präsenz in Osteuropa auf eine relevante Zahl von Soldaten erhöht. Und selbst diese Truppen stellen für Russland keine Bedrohung dar.

Warum nicht?

Aus einem einfachen Grund: Die Sicherheit eines schwer bewaffneten Nuklearwaffenstaates ist nicht bedrohbar. Russlands Sicherheit stand nie infrage. Bestritten wird Russland lediglich das Recht, über andere souveräne Staaten zu herrschen und in seinem regionalen Umfeld eine Einflusszone aufzubauen: in Belarus, in der Ukraine, in Moldau, in Georgien, in Kasachstan. In jedem dieser Länder gab und gibt es Kräfte, die sagen, dass sie nicht in einem russischen Satellitenstaat leben wollen. In der Ukraine wird das gerade ausgefochten. Kasachstan hat es geschickt gemacht, sich im Windschatten der Ukraine zu lösen. Belarus ist es nicht gelungen, die sind kalt annektiert worden.

Trägt die NATO zumindest indirekt eine Mitverantwortung? Hätte der Krieg beispielsweise Ende 2021 oder Anfang 2022 durch Verhandlungen vermieden werden können?

Der Krieg hätte vermieden werden können, das ist richtig. Aber nicht durch Verhandlungen, denn Russland wollte nicht verhandeln. Russland hat im Dezember 2021 zwei Vertragsentwürfe präsentiert und gesagt: Akzeptiert das, dann ist die Sache vom Tisch. In diesen Verträgen steht, kurz gefasst, dass die Ukraine unter russischem Einfluss steht und die NATO ihre Strukturen aus Osteuropa zurückzieht. Es hätte damit Zonen unterschiedlicher Sicherheit innerhalb der NATO gegeben - daran wäre das Bündnis zerbrochen. Die Vereinigten Staaten haben damals Verhandlungen angeboten: über Rüstungskontrolle, über Manöver, über Kommunikationsmuster. Die Antwort aus Moskau war: Das ist alles gut und schön. Aber darüber wollen wir nicht reden. Akzeptiert, was wir fordern, oder lasst es sein.

Haben die USA ein Interesse daran, dass dieser Krieg in die Länge gezogen wird? Denn wie auch immer er ausgeht, Russland wird danach militärisch und wirtschaftlich geschwächt sein.

Richtig ist, dass die Vereinigten Staaten nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine das Interesse formuliert haben, dass Russland in diesem Krieg so geschwächt wird, dass es seine Nachbarn nicht gleich wieder überfallen kann. Aber dieser Zeitpunkt scheint längst gekommen zu sein, wenn man sich die Kampfkraft der russischen Streitkräfte anschaut. Zudem ist zu erwarten, dass die Staaten im Umfeld Russlands erheblich aufrüsten und sich Sicherheitsgarantien besorgen werden, um nicht in eine Lage zu geraten wie die Ukraine. Insofern sehe ich nicht, dass die USA ein Interesse an einem langen Krieg haben. Sie waren ja auch gar nicht darauf vorbereitet und müssen nun im Hauruckverfahren Munition produzieren, um die Ukraine zu unterstützen.

Befürworter und Gegner von Waffenlieferungen betonen gleichermaßen, dass der Krieg mit Verhandlungen enden wird. Nur: Wann ist die Zeit für Verhandlungen gekommen?

Der ist dann gekommen, wenn beide Seiten erfahren, dass sie im Kriegsgeschehen selbst nicht wirklich weiterkommen. Weder wird die Ukraine, solange sie die Unterstützung des Westens hat, eine vollständige Niederlage erfahren, noch wird Russland in dem Krieg eine Niederlage erfahren. Russland wird auch nicht "besiegt", sondern ihm wird die Landnahme in der Ukraine verwehrt. Alle Maßnahmen, auch die Unterstützung der westlichen Staaten, sind ja immer damit verbunden, dass dieser Krieg nicht nach Russland getragen wird. Russland führt Krieg, ohne selbst betroffen zu sein.

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Massengrab in der Nähe von Isjum. Hunderte Zivilisten wurden in der Stadt von russischen Soldaten getötet.

(Foto: picture alliance / abaca)

In Verhandlungen gibt es üblicherweise ein Geben und Nehmen. Aber das kleinste Zugeständnis an Russland könnte als Signal verstanden werden, dass völkerrechtswidrige Angriffskriege in Europa sich lohnen. Wie kommt man aus diesem Dilemma raus?

Das Signal, dass völkerrechtswidrige Maßnahmen sich lohnen, wurde Russland bereits 2014 gegeben. Damals hat der Westen eben nicht konsequent auf die Annexion der Krim reagiert. Keiner weiß, wie die Geschichte verlaufen wäre, aber ohne Russlands Angriff vom 24. Februar 2022 wäre es wahrscheinlich irgendwann dazu gekommen, dass der Westen stillschweigend anerkannt hätte, dass die Krim zwar nicht völkerrechtlich, aber doch faktisch russisches Territorium ist. Am Ende wären die Sanktionen wahrscheinlich einfach aufgehoben worden. Erst durch den russischen Angriffskrieg ist der Status der Krim wieder offen.

Wie weit Russland militärisch zurückgedrängt werden kann, wann die Kampfkraft nachlässt, wann der Moment kommt, wo möglicherweise Fraktionskämpfe im Kreml dazu führen, dass der dortige Herrscher ein Ende des Kriegs als bessere Ausgangslage zum eigenen Machterhalt ansieht - das sind alles Fragen, die wir heute nicht beantworten können. Der Kreml ist so verschlossen, dass wir nicht wissen, was da momentan geschieht. Es gibt einige öffentliche Äußerungen und wohl auch Machtkämpfe. Aber solche Beobachtungen sind ein sehr vages Fundament, um darauf Prognosen aufzubauen.

Sie würden keine Prognose abgeben, wann und wie dieser Krieg endet?

Krieg ist ein sich fortlaufend entwickelnder Prozess, der von Brüchen und Überraschungen gekennzeichnet sein kann. Insofern kann man Prognosen immer nur anpassen. Heute sieht es so aus, als ob es ein langer Krieg wird, weil Russland keinerlei Interesse daran hat, ihn zu beenden. Die Dauer des Krieges hängt auch davon ab, wer welche militärischen Kapazitäten in der Industrie aufbauen kann. Im Moment sehen wir, dass das, was vor Wochen als russische Großoffensive mit mehreren Hunderttausend Soldaten angekündigt wurde, nicht die nötige Kampfkraft aufbringt, um echte Geländegewinne zu erzielen. Vorsichtige Beobachter sollte dies aber nicht dazu veranlassen, zu sagen, dass das auch in den nächsten Monaten so bleibt.

ntv Spezial: Ein Jahr Ukraine-Krieg

Heute bei ntv und im Livestream bei ntv.de

20:15 Uhr - ntv Doku: Der Ukraine-Krieg - Eine Nation leistet Widerstand

21:05 Uhr - ntv Doku: Angriff aus Moskau - Ist unsere Infrastruktur in Gefahr?

22:05 Uhr - Deutschlandpremiere ntv Doku: Der Ukraine-Krieg von oben

Haben Sie Verständnis für Menschen, die das "Manifest für Frieden" unterstützen, weil sie einfach für den Frieden sind?

Ich kann gut verstehen, dass Menschen in Frieden leben wollen und dass man sich Frieden wünscht, wenn Krieg herrscht. Aber man sollte sich doch mit dem Thema beschäftigen, bevor man ein solches Manifest unterschreibt. Ein Ende der Waffenlieferungen käme einem Ende der Ukraine gleich. Daher: Nein, dafür habe ich kein Verständnis, denn es ist letztlich eine Parteinahme für den Aggressor Russland.

Mit Thomas Jäger sprach Hubertus Volmer

Quelle: ntv.de

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