Kandidatur-Talk bei "Anne Will" Braucht Deutschland weitere Merkel-Jahre?
21.11.2016, 06:24 Uhr
Anne Wills Gäste, von links nach rechts: Hans-Joachim Maaz, Klaus Wowereit, Annegret Kramp-Karrenbauer und Giovanni di Lorenzo
(Foto: NDR/Wolfgang Borrs)
Seit Angela Merkel vor mehr als elf Jahren zum ersten Mal gewählt wurde, hat sich vieles verändert: Deutschland scheint gespalten, an allen Ecken und Enden der Welt brennt es. Ist die Bundeskanzlerin auch weiterhin die Richtige für den Job?
Die Vereinigten Staaten werden in Zukunft von einem Populisten regiert, der Islamische Staat schickt seine Terroristen nach Deutschland und in der Bundesrepublik selbst wird die gefühlte Kluft zwischen der bürgerlichen Mitte und den lautstarken Protesträndern immer größer: Die Liste der Unruheherde lässt sich zurzeit fast beliebig fortführen, eine Krise jagt die nächste - und die Bundeskanzlerin entscheidet sich, nach zwölf Jahren im Amt noch weitere vier dranhängen zu wollen. Ist Angela Merkels Entscheidung das richtige Signal in unsicheren Zeiten oder trägt die Kanzlerin gerade mit ihrer erneuten Kandidatur dazu bei, die Zeiten noch unsicherer zu machen?

Kam vor der Sendung für ein Interview auf Anne Wills Couch: die Bundeskanzlerin
(Foto: NDR/Wolfgang Borrs)
Anne Will stellt diese Frage ihren Gästen in einer extralangen Ausgabe ihrer sonntäglichen Talkshow - vorgeschaltet ist noch ein Interview der Kanzlerin mit Moderatorin Will, in der Merkel größtenteils wiederholt, was sie bereits kurz zuvor in der CDU-Parteizentrale gesagt hat. Auf Wills Couch nehmen im Anschluss der ehemalige Berliner Bürgermeister Klaus Wowereit, "Zeit"-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo, die saarländische Ministerpräsidentin Annegret Kramp-Karrenbauer sowie der Psychoanalytiker und Autor Hans-Joachim Maaz Platz.
"Ich hätte ihr einen würdigen Abgang gewünscht, und noch viel wichtiger: Es ist peinlich für die Partei, dass es anscheinend keinen adäquaten Ersatz für Merkel zu geben scheint. Und der einzige, der sich nach vorne wagt, ist Seehofer, der dafür zum dummen Jungen gemacht wird", beginnt Maaz die Diskussion. Die anderen drei Gesprächsteilnehmer scheinen indes ein komplett anderes Interview mit der Kanzlerin gesehen zu haben: "Wenn Merkel erklärt hätte, sie tritt heute nicht mehr an, das wäre bei weitem die schlechtere Neuigkeit gewesen", findet di Lorenzo, und Kramp-Karrenbauer ergänzt: "Ich finde nicht, dass sie in dem Interview inhaltsleer war. Da saß jemand, der mit sich sehr gerungen hat, ob das die richtige Entscheidung ist und auch kühl abgewägt hat, ob eine erneute Kandidatur dem Land Vor- oder Nachteile bringt."
Sogar Wowereit, der allein schon wegen seiner Parteizugehörigkeit Merkel gegenübersteht, begrüßt ihre Entscheidung durch die Blume: "Als SPD ist mir das jetzt erstmal egal - ich kann ja nicht sagen, dass die Bundesrepublik Deutschland untergegangen wäre, wenn sie nicht wieder kandidieren würde. Aber schlimm ist anders."
"Wünsche mir einen gesünderen Blick"
Bis auf Maaz sind sich also alle einig, mit Merkel als Kanzlerin weiterhin ziemlich ordentlich zu fahren - di Lorenzo erklärt, warum: "Wir haben ein Europa, das droht, auseinanderzufallen. Wenn Frankreich an Le Pen geht, dann ist das Projekt Europa vorbei. Ganz zu schweigen vom Referendum in Italien und dem Durchmarsch Hofers in Österreich." Auch wenn die Kanzlerin betont, nicht die letzte Vertreterin einer liberalen Weltordnung zu sein, sehen zumindest Wills Gäste sie als wichtigen Baustein derselben: "Sie steht dafür, dass sie nicht von ihrer Grundüberzeugung für Europa abweicht", ist Kramp-Karrenbauer überzeugt.
Sogar Maaz, der sich anfangs so vehement gegen Merkel ausgesprochen hat, lässt sich von dieser Linie später überzeugen. Was aber wird die dringlichste Aufgabe der Kanzlerin sein, sollte sie tatsächlich weitere vier Jahre regieren? "Sie müsste das Land und die Menschen dahin führen, dass wir den Wandel weg von der kapitalistischen Weltordnung schaffen, die im Sterben liegt", ist der Psychoanalytiker überzeugt, der den Zustand der Bundesrepublik in düsteren Farben malt. Giovanni di Lorenzo relativiert: "Ich wünsche mir manchmal einen etwas gesünderen Blick für das Gute im Lande: Davon gibt es nämlich eine ganze Menge." Aus dem Munde des "Zeit"-Chefredakteurs, selbst nicht für seinen Hurra-Patriotismus bekannt, ist das so etwas wie ein verbaler Ritterschlag für Merkel. Zumindest bei Anne Will scheint also klar: In Zeiten wie diesen fährt die Bundesrepublik mit Angela Merkel als Bundeskanzlerin gar nicht mal so schlecht.
Quelle: ntv.de