Vorwürfe gegen Ampel-Gesetz Packt das Bürgergeld die Leute in Watte?
11.11.2022, 13:09 Uhr (aktualisiert)
"Stütze" beantragen, aber die Villa in Blankenese behalten - leicht überspitzt wird ein solches Ungleichgewicht dem neuen Bürgergeld vorgeworfen.
(Foto: picture alliance / Daniel Kalker)
60.000 Euro Erspartes, Auto, Eigenheim und dann Stütze obendrauf - die Extrembeispiele der Bürgergeld-Kritiker klingen drastisch. Aber will die Regierung den Langzeitarbeitslosen wirklich zu viel helfen? Viele der Regelungen, die jetzt unter Beschuss stehen, gelten schon seit Beginn der Pandemie.
Der Bundestag hat entschieden, und für Millionen Menschen in Deutschland war diese Entscheidung dringend: Ab dem 1. Januar will die Regierungskoalition an Langzeitarbeitslose und Arbeitende, die ihren geringen Lohn bisher mit Hartz IV aufstocken, das neue Bürgergeld auszahlen: eine deutlich erhöhte Grundsicherung, für Alleinstehende zum Beispiel von knapp 450 Euro angehoben auf 502 Euro.
Dieser Teil des Gesetzes ist zwischen Ampel und Union nicht umstritten, denn letztlich ist der zukünftige Regelsatz vor allem angepasst an die Teuerungsrate. Bei 10,4 Prozent lag die Inflationsrate im Oktober, in den Monaten zuvor nur wenig darunter. Die etwa 50 Euro mehr im Portemonnaie eines Singles, rund 180 Euro mehr für eine vierköpfige Familie, werden also nur helfen, den derzeitigen Verlust an Kaufkraft, der vielen Sorge bereitet, etwas abzumildern.
Mit der Entscheidung im Parlament könnte die Zeit für die Umstellung knapp noch reichen, um ins neue Jahr auch mit den neuen Regelsätzen zu starten - wäre da nicht Mitte November noch die Entscheidung im Bundesrat. Der muss dem Gesetz zustimmen, und das könnte für die Ampel schiefgehen, wenn Landesregierungen mit Unions-Beteiligung wie etwa Bayern, NRW, Schleswig-Holstein und Baden-Württemberg das Bürgergeld blockieren.
Exakt das stellen CDU und CSU in Aussicht. Beide sind mit einer Reihe von Faktoren rund um das neue Bürgergeld nicht einverstanden. Sie sehen in den Anpassungen, die das Arbeitsministerium nach der ersten Kritiksalve vorgenommen hat, keine entscheidende Verbesserung und warnen, in der jetzigen Form werde das Gesetz "ziemlich sicher in der nächsten Woche im Bundesrat keine Mehrheit finden", wie Unionsfraktionschef Friedrich Merz sagte.
Vermögen wird zwei Jahre lang nicht angetastet
Kritik am Bürgergeld kommt nicht nur von der Union, sondern auch vom Bundesrechnungshof, vom Paritätischen Gesamtverband, dem Landkreistag, diversen Wirtschaftsinstituten sowie den Arbeitgeberverbänden. Es verfestigt sich der Eindruck, dass jeder, der mit dem Komplex "Arbeit und Soziales" in Deutschland in irgendeiner Form befasst ist, am neuen Gesetz Substanzielles zu meckern hat. Zu Recht?
Die Arbeitsminister der vier bereits erwähnten Bundesländer, in denen die Union an der Regierung beteiligt ist, bemängeln in erster Linie die vorgesehene Karenzzeit. Sie besagt, dass Bedürftige zwei Jahre lang Leistungen beziehen können, ohne dass Vermögen und Wohnsituation geprüft und angetastet werden. Es sei denn, die Antragsteller weisen ihr Vermögen selbst als "erheblich" aus. "Es kann nicht sein, dass jemand bis zu zweieinhalb Jahre in der Arbeitslosigkeit bleibt und das sogenannte Bürgergeld bekommt und praktisch kaum einen eigenen Beitrag dazu leisten muss, dass er wieder zurückkehrt in den Arbeitsmarkt. Das geht so nicht", so Friedrich Merz im "Frühstart" von ntv.
Erheblich ist das Vermögen eines Alleinstehenden nach Ampel-Verständnis ab einer Höhe von 60.000 Euro. Eine Familie oder Bedarfsgemeinschaft darf jeweils weitere 30.000 Euro für jedes weitere Mitglied an Ersparten haben, ohne dass es in die Bewertung der Bedürftigkeit einfließt. Es gilt als "Schonvermögen". Eine vierköpfige Familie könnte also bis zu 150.000 Euro Sparvermögen besitzen sowie eine selbstbewohnte Immobilie, und nach Jobverlust und dem Bezug von Arbeitslosengeld würde sie trotzdem zwei Jahre lang Bürgergeld bekommen, etwa in einer Höhe von 1700 Euro plus Übernahme der Wohn- und Heizkosten.
"Die Regelungen im Gesetzentwurf führen innerhalb der ersten zwei Jahre zu einem weitgehend bedingungslosen Grundeinkommen", bilanziert die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände und hat erwartbarerweise etwas gegen diese Entwicklung.
Setzt die Karenzzeit "Fehlanreize"?
Auch der Städte- und Gemeindebund lehnt die zweijährige Karenzzeit ab. In dieser Zeit nicht zu überprüfen, ob die Mietzahlung eines Bürgergeld-Empfängers angemessen ist, führt seiner Auffassung nach dazu, dass der Staat mehr Mittel für die Übernahme von Unterkunftskosten aufwenden muss. Zudem setze es "Fehlanreize". Die Karenzzeiten lüden dazu ein, die ersten zwei Jahre Leistungsbezug auch auszuschöpfen.
Zur Wahrheit gehört allerdings, dass diese Karenzzeit als Regelung bereits besteht, und zwar aus der Hochzeit der Corona-Pandemie stammend. Damals führte die Große Koalition sie ein, um unter anderem das Vermögen Selbstständiger besser zu schützen, das bei diesen häufig als Altersvorsorge dient.
Die Ampel will diese Regelung im neuen Gesetz verstetigen. Ein Seitenaspekt: Auch jemand, der zu Pandemiezeiten schon von der Karenzzeit profitiert hat, könnte sie mit dem Bürgergeld nochmals um zwei Jahre verlängern. Im Extremfall auf fünf Jahre Leistungsbezug, ohne dass Schonvermögen oder eine bewohnte Immobilie angetastet wird.
Wie viele Extremfälle solcher Art auf die Jobcenter zukommen werden, lässt sich nicht genau vorhersagen. Studien besagen, dass Langzeitarbeitslose mit nennenswertem Vermögen einen Anteil von etwa ein bis zwei Prozent der Gesamtzahl ausmachen. Die lag im Jahr 2021 bei 1,03 Millionen Personen. Dass es für die Jobcenter teurer wird, für zwei Jahre Mietkosten in voller Höhe zu übernehmen und ohne Überprüfung, ob sie angemessen sind, steht wohl außer Frage.
Arbeit bringt mehr als Bürgergeld
Die Fallbeispiele, die in den vergangenen Wochen durch Internet und Medien geisterten und suggerierten, dass man als Langzeitarbeitsloser unter Umständen besser über die Runden komme, als in Arbeit, erwiesen sich nach kurzer Zeit als falsch berechnet. So hatte man staatliche Unterstützungen für Geringverdiener, wie zum Beispiel mehrere hundert Euro Wohngeld, in den Berechnungen unterschlagen. Durch solche Leistungen und die Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro sieht Jürgen Schupp, Arbeits- und Sozialexperte beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), das Lohnabstandsgebot weiterhin gewährleistet. Wer arbeitet, hat mehr Geld zur Verfügung als jemand, der Bürgergeld bekommt.
Bei der Karenzzeit überwiegen aus seiner Sicht die positiven Effekte: Antragsteller müssen sich nicht erst "arm machen", indem sie nennenswerte Ersparnisse aufbrauchen, bevor sie die Chance bekommen, sich in einer schwierigen Situation staatlich fördern zu lassen. Vermieden wird auch die sonst häufige Doppelbelastung, gleichzeitig eine neue Arbeitsstelle und eine neue, billigere Wohnung suchen zu müssen. Wenn die Miete zwei Jahre lang gesichert ist, kann der Fokus ganz auf der Jobsuche liegen.
Verleiten die zwei Karenzjahre aber dazu, es sich Dank der Grundsicherung allzu bequem zu machen? Zumal in den ersten sechs Monaten, "Vertrauenszeit" genannt, noch nicht mal eine Verpflichtung besteht, aktiv bei der Jobsuche mitzuarbeiten. Als Einfallstor für Missbrauch wird diese Regelung nicht nur von der Union gesehen. Tatsächlich ermöglicht ein solches Rundum-Angebot auch denjenigen, es zu beziehen, die nach Ende der Karenzzeit nicht mehr unter die Gruppe der Hilfsberechtigten fallen würden. Das erleichtert Missbrauch, Kritik in diesem Punkt ist berechtigt.
Sozialwissenschaftler Schupp möchte allerdings auch hier die positiven Effekte von Karenz- und Vertrauenszeit gegengerechnet wissen. Denn weitaus häufiger als Missbrauchsfälle kommt es vor, dass sich Leistungsberechtigte schämen, überhaupt zum Amt zu gehen. 42 Prozent der Befragten gaben das bei einer Umfrage unter nordrhein-westfälischen Langzeitarbeitslosen an. Jobverlust und drohender sozialer Abstieg lassen das Selbstvertrauen auf Kellerniveau sinken.
Ein Vertrauensvorschuss hilft
Da hilft es, so Schupp, wenn seitens der Jobcenter erstmal ein freundliches Klima geschaffen wird, "anstatt dass mit dem ersten Anschreiben sogleich die Rechtsmittelbelehrung erfolgt, welche Missbrauchsform in welcher Weise geahndet wird".
Die Annahme der Union, die Karenzzeiten setzten "Fehlanreize zum Verbleib im Leistungsbezug", ist zwar nicht von der Hand zu weisen. Doch Anreize bedeuten nicht zwangsläufig, dass ihnen auch Menschen in großer Zahl folgen. So weist die Statistik der Bundesagentur für Arbeit aus, dass mehr als 200.000 Langzeitarbeitslose 2021 nach spätestens zwei Jahren wieder einen Job im ersten Arbeitsmarkt gefunden hatten. Sie waren demnach bei der Jobsuche aus der Karenzzeit heraus erfolgreich.
Die Quote dieser erfolgreichen Abgänge stieg sogar von 1,2 auf 1,8 Prozent innerhalb eines Jahres, obwohl durch Einführung der Karenzzeit 2020 die Umstände für Hartz-IV-Bezieher verbessert waren. Das spricht dagegen, dass ein Klima ohne Misstrauen im Jobcenter zwangsläufig dazu führen muss, dass sich viele Leistungsempfänger dauerhaft in der Abhängigkeit vom Staat einrichten.
Veränderungen der Langzeitarbeitslosenquote in den vergangenen zehn Jahren lassen sich recht eindeutig der konjunkturellen Entwicklung zuordnen. War diese positiv und der Arbeitsmarkt entsprechend offen, so fanden auch mehr Langzeitarbeitslose zurück in den Arbeitsmarkt.
Sanktionen dürften laut Verfassungsgericht schärfer sein
Um Missbrauch des Sozialsystems zu ahnden und das Bemühen der Hilfeempfänger um eine Rückkehr auf den Arbeitsmarkt zu sichern, will die Ampel das Prinzip aus Fördern und Fordern beim Bürgergeld beibehalten. Bis zu 30 Prozent der Unterstützungssumme können gestrichen werden, wenn der Empfänger nicht bereit ist, sich aktiv an der Jobsuche zu beteiligen.
Die Union bemängelt hier, dass die Schärfe der Sanktionen hinter dem zurückbleibt, was das Bundesverfassungsgericht im Jahr 2019 als anwendbar erlaubte. Karlsruhe hatte die weitaus strengeren Hartz-IV-Sanktionen für nicht mit dem Grundgesetz vereinbar erklärt. Den Spielraum, den die Verfassungsrichter ließen, schöpft die Ampel jedoch nicht aus.
Der Bundesrechnungshof kritisiert das, da seiner Ansicht nach "Prüfungserkenntnisse zeigen, dass sich bereits die präventive Wirkung von Sanktionen positiv auf die Zusammenarbeit der Leistungsberechtigten mit dem Jobcenter" auswirken. Aus welchen Prüfungen diese Erkenntnisse stammen, bleibt allerdings unklar.
Aus der Arbeits- und Sozialforschung ist keinerlei Empirie zur Wirkung von Sanktionen bekannt. Sie wurden 2005 im Zuge der Hartz-IV-Reformen eingeführt, weil man schlicht annahm und hoffte, dass sie positiv wirken würden. Während viele Sozialforscher Sanktionen am Existenzminimum als "entwürdigend" ablehnen, besagt die Umfrage unter Langzeitarbeitslosen aus NRW, dass nur eine knappe Mehrheit, 53 Prozent, dafür plädieren würde, Sanktionen vollständig abzuschaffen. 22 Prozent sind unentschlossen und weitere 22 Prozent wollen Sanktionen in jedem Fall beibehalten.
(Dieser Artikel wurde am Donnerstag, 10. November 2022 erstmals veröffentlicht.)
Quelle: ntv.de