Politik

Politologe Varwick im Interview "Das wäre das Ende Europas"

"Alles, was wir jetzt machen, ist Rhetorik und Symbolik", sagt Johannes Varwick. "Wir müssen jetzt ein Konzept aus dem Kalten Krieg wieder aus den Schubladen holen: Containment, also Eindämmung."

"Alles, was wir jetzt machen, ist Rhetorik und Symbolik", sagt Johannes Varwick. "Wir müssen jetzt ein Konzept aus dem Kalten Krieg wieder aus den Schubladen holen: Containment, also Eindämmung."

(Foto: picture alliance/dpa)

Der Westen hätte mit Russland über die Neutralität der Ukraine verhandeln müssen, sagt der Politologe Johannes Varwick. "Die Alternative dazu war, die Ukraine durch russische Besatzung zu verlieren. So ist es jetzt leider gekommen." Von einer militärischen Eskalation rät Varwick dringend ab. "Wenn wir Russland die Ukraine streitig machen würden, könnte Russland nuklear eskalieren. Das wäre das Ende Europas."

ntv.de: NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg sagt, jedes NATO-Mitglied entscheide selbst, ob es der Ukraine Waffen liefere. Muss Deutschland diese Debatte auch führen?

Johannes Varwick hat einen Lehrstuhl für internationale Beziehungen und europäische Politik an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.

Johannes Varwick hat einen Lehrstuhl für internationale Beziehungen und europäische Politik an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.

(Foto: ntv)

Johannes Varwick: Führen müssen wir diese Debatte, aber ich halte es nach wie vor für unklug, der Ukraine tatsächlich Waffen zu liefern. Ich sehe nicht, wie sich das russische Kalkül über die Kräfteverhältnisse am Boden durch Waffenlieferungen verändern ließe. Im Zweifel würde das den Konflikt nur noch blutiger machen. Das ist bitter, aber so ist die Realität.

Gibt es denn irgendetwas, durch das man das russische Kalkül noch beeinflussen könnte?

Nein, das glaube ich nicht. Russland ist zu meinem Entsetzen entschlossen, diesen Konflikt mit militärischer Gewalt für sich zu entscheiden. Gelöst ist er damit natürlich nicht, aber am russischen Vorgehen werden weder Waffenlieferungen noch Sanktionen etwas ändern. Das Einzige, was das russische Kalkül verändern könnte, wäre die Bereitschaft, selber militärisch in der Ukraine zu intervenieren. Das schließt die NATO völlig zu Recht aus. Aber unterhalb dieser Schwelle wird Russland nicht zu beeindrucken sein.

Das heißt, der Westen guckt jetzt einfach zu.

Alles, was wir jetzt machen, ist Rhetorik und Symbolik. Aber wir werden die Lage am Boden nicht mehr beeinflussen können. Wir hätten vorher einen Versuch unternehmen müssen, mit Russland einen Interessenausgleich hinzubekommen. Das ist gescheitert. Jetzt ist die Diplomatie am Ende.

An welchen Versuch denken Sie?

Aus meiner Sicht wäre es klüger gewesen, über eine Neutralität der Ukraine zu verhandeln - mit Russland und auch mit der Ukraine. Das wäre die einzige Lösung gewesen, die Russland vielleicht davon abgehalten hätte, in der Ukraine zu intervenieren. Dazu waren wir nicht bereit, weil wir unsere Prinzipien nicht infrage stellen wollen. Das ist, denke ich, wirklich ein Versagen. Das ist die Mitverantwortung des Westens an dieser Lage.

War das eine realistische Option? War Putins Forderung, die Geschichte ins Jahr 1997 zurückzudrehen, für die NATO wirklich erfüllbar?

Nein, die Forderungen waren nicht erfüllbar. Aber, das ist ein feiner Unterschied: Sie waren verhandelbar. Natürlich hätte Russland nicht das ganze Paket bekommen. Aber in Verhandlungen hätte man die legitimen von den illegitimen Punkten unterscheiden und dann, wie Diplomatie das machen muss, ein Paket schnüren können.

Was waren aus Ihrer Sicht legitime Forderungen Russlands?

Legitim in der Lage, wie sie nun einmal ist, war die Forderung, dass die Ukraine kein NATO-Mitglied wird und damit einen neutralen Status bekommt. Das wäre die Eintrittskarte zu Verhandlungen gewesen. Dann hätten wir über andere Fragen wie Rüstungskontrolle, Transparenz bei Manövern, die Vermeidung von unbeabsichtigter Eskalation reden können. Aber eben nur, wenn wir bereit gewesen wären, diese Eintrittskarte zu lösen. Die Alternative dazu war, die Ukraine durch russische Besatzung zu verlieren. So ist es jetzt leider gekommen.

Nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine ist schwer vorstellbar, dass Putin mit Zugeständnissen zu stoppen gewesen wäre.

Putin wollte die Ukraine als Cordon sanitaire, also als Sicherheitsgürtel zwischen Russland und NATO. Über die Mittel, denke ich, hätte man reden können. Natürlich hat Putin damit die Souveränität der Ukraine infrage gestellt und das kann uns nicht gefallen. Aber wir sehen doch jetzt, dass dieses Ziel jetzt auch umgesetzt wird, mit Mitteln, die noch schlimmer sind als alles, was wir in Verhandlungen hätten erreichen können. Insofern haben wir der Ukraine einen Bärendienst erwiesen. Natürlich liegt die Hauptverantwortung in Russland. Aber es liegt eben auch daran, dass wir nicht bereit waren zu einem Interessenausgleich mit Russland.

Das würde bedeuten, Putins Plan stand nicht von vornherein fest, einen Angriff dieses Ausmaßes zu tätigen?

Ich würde sagen, der Plan stand fest, dass die Ukraine niemals in die NATO kommt und dass kein westliches Militär in der Ukraine stationiert wird. Die Mittel hat er angepasst.

Wenn Russland die Ukraine besetzt, stünde es direkt an der Grenze zur NATO. Wie muss der Westen damit umgehen?

Wir müssen jetzt ein Konzept aus dem Kalten Krieg wieder aus den Schubladen holen: Containment, also Eindämmung. Dazu gehört, dass wir NATO-Truppen in den östlichen Beitrittsstaaten stationieren. Das kommt einer Aufkündigung der NATO-Russland-Grundakte gleich, aber das ist alternativlos. Wir müssen jetzt die Ostflanke der NATO massiv stärken, damit Putin versteht: Es macht einen Unterschied, ob er sich mit einem NATO-Staat anlegt oder einem Nicht-NATO-Staat.

Putin hat gesagt, wer auch immer versuche, sich Russland in den Weg zu stellen, müsse wissen, "dass die Folgen so sein werden, wie Sie es in Ihrer Geschichte noch nie gesehen haben". Wie sehr muss uns diese Drohung beunruhigen?

Das muss uns im allerhöchsten Maße beunruhigen. Wir sollten nicht vergessen, dass Russland zur nuklearen Eskalation fähig ist, und auch das müssen wir in unser Handeln einpreisen. Das ist keine Feigheit vor Russland, sondern einfach eine nüchterne Bewertung der Lage. Wenn wir Russland die Ukraine streitig machen würden, könnte Russland nuklear eskalieren. Das wäre das Ende Europas. Das sollten wir nicht riskieren.

Wenn Putin zu etwas so Wahnsinnigem wie einem nuklearen Schlag bereit wäre, was gibt uns dann die Zuversicht, dass er vor NATO-Grenzen ganz nüchtern Halt macht?

Weil das einen Unterschied macht: Bei NATO-Territorium sind wir am Ende auch nuklear eskalationsfähig, und das weiß Putin. Bei der Ukraine weiß er ebenso genau, dass wir das nicht sind. Das macht den Unterschied. Deswegen wollen ja alle in die NATO. Der nukleare Schutzschirm ist der zentrale Aspekt.

Waren wir in den vergangenen Jahren zu blauäugig?

Das würde ich nicht sagen. Nach 2014 hat die NATO das Thema Bündnis- und Landesverteidigung wieder auf die Agenda gesetzt, das war vorher nicht der Fall. Wir haben uns im Spagat aus Abschreckung und Dialog mehr in Richtung Abschreckung bewegt und haben keine offene Flanke geboten. Die Ukraine ist einfach ein Sonderfall. Unser Versäumnis ist, dass wir die Ukraine-Frage nicht gelöst haben. Das müssen wir uns vorwerfen.

Ist es denkbar, dass man wieder zu Verhandlungen kommt, solange Putin an der Macht ist?

Das halte ich für ausgeschlossen. Putin hat jeden Kredit verspielt. Wir müssen jetzt in langen Zyklen denken und wahrscheinlich wieder zu einer Denkweise kommen wie beim Ost-West-Konflikt, wo man eher über Jahrzehnte und Generationen nachdenkt als über Wahlperioden und kurze Zyklen. Das Verhältnis ist auf absehbare Zeit zerstört.

Mit Johannes Varwick sprach Frauke Niemeyer

Quelle: ntv.de

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