Politik

Reisners Blick auf die Front "Den Russen spielt der Krieg in Israel noch in die Hände"

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Blut und eine Patronenhülse in einem Haus nahe des Gazastreifens, das zeitweise von Hamas-Terroristen besetzt war.

Blut und eine Patronenhülse in einem Haus nahe des Gazastreifens, das zeitweise von Hamas-Terroristen besetzt war.

(Foto: REUTERS)

In dieser Woche geht es in Reisners Blick auf die Front vor allem um den Angriff der Hamas auf Israel. Für die Verteidigung des Landes hat die israelische Armee eine Art Zonenkonzept, erläutert Oberst Markus Reisner im Interview mit ntv.de: "Wenn es zum Durchbruch kommt, werden sofort mehrere rückwärtige Verteidigungslinien errichtet. Das ist auch gelungen. Aber es hat gedauert und viel Raum gekostet, bevor die Armee die Lage in den Griff bekommen hat." Ein nahes Ende des Kriegs sieht er nicht: "Insgesamt ist eine Eskalation zu erwarten, denn beim Versuch der Israelis, die Geiseln zu befreien und die Hamas zu bekämpfen, wird es zu einem massiven Einsatz von militärischen Mitteln kommen."

Mit Blick auf den russischen Krieg gegen die Ukraine sieht Reisner ein Scheitern der ukrainischen Offensive. Zudem gebe es Anzeichen auf eine Zunahme des Raketenkriegs: "Das deutet darauf hin, dass dieser Winter besonders hart werden kann. (…) Aus meiner Sicht stehen die Zeichen hier auf Sturm."

Markus Reisner ist Oberst des österreichischen Bundesheeres und anaylsiert jeden Montag für ntv.de die Kriegslage in der Ukraine.

Markus Reisner ist Oberst des österreichischen Bundesheeres und anaylsiert jeden Montag für ntv.de die Kriegslage in der Ukraine.

(Foto: ntv.de)

ntv.de: Lassen Sie uns in dieser Woche ausnahmsweise mit einem anderen Krieg beginnen, dem der Hamas gegen Israel. Wie kann es sein, dass die israelischen Streitkräfte, eine der modernsten Armeen der Welt, so überrumpelt wurden?

Markus Reisner: Das ist aktuell die Frage, die sich jeder stellt. Es gibt mehrere Erklärungsansätze. Zum einen ist möglich, dass die israelische Armee tatsächlich vollkommen überrascht wurde, weil sie die Zeichen nicht richtig gelesen hat. Denkbar ist aber auch, dass die Zeichen erkannt wurden, aber dann durch die mehr als 30 Durchbrüche der Hamas ein Dominoeffekt entstand, der nicht so schnell eingefangen werden konnte. Momentan ist die israelische Armee damit beschäftigt, die Eindringlinge zu bekämpfen. Aber später wird es sicherlich einiges zum Aufarbeiten geben.

Schon jetzt ist dies der verlustreichste Krieg für Israel seit dem Jom-Kippur-Krieg 1973. Hätten Sie sich vorstellen können, dass Hamas-Kämpfer in israelische Ortschaften eindringen, dort Zivilisten töten, Geiseln nehmen und Gebäude besetzt halten?

Die israelische Armee hat eigentlich ein sehr ausgeklügeltes Sicherheitskonzept. Aber sie hat das Schwergewicht in den vergangenen Jahren auf den Norden Israels gelegt sowie auf das Westjordanland. Man ist offenbar davon ausgegangen, den Gazastreifen unter Kontrolle zu haben. Für die Verteidigung des Landes hat die israelische Armee eine Art Zonenkonzept: Wenn es zum Durchbruch kommt, werden sofort mehrere rückwärtige Verteidigungslinien errichtet. Das ist auch gelungen. Aber es hat gedauert und viel Raum gekostet, bevor die Armee die Lage in den Griff bekommen hat. Man kann also davon ausgehen, dass das israelische Sicherheitskonzept zumindest in Teilen nicht so funktioniert hat, wie es beabsichtigt war. Übrigens waren die Durchbrüche nicht nur überirdisch, sondern auch durch Tunnelanlagen. Auch das hat dazu geführt, dass es der Hamas gelungen ist, sehr tief nach Israel einzudringen.

Hat die Hamas ein militärisches Ziel, das sie mit diesem Angriff erreichen will, oder geht es nur darum, ein Schauspiel abzuziehen?

Das erste und wichtigste Ziel, das die Hamas erreicht hat, ist, den Nimbus der Unbesiegbarkeit der israelischen Armee zu diskreditieren. Den Hamas-Kämpfern ist es nicht nur gelungen, die Sicherheitsanlagen zu durchbrechen, sie haben auch israelische Panzer erbeutet, darunter den berühmten Kampfpanzer Merkava. Das Schlimmste an all diesen Ereignissen ist, dass es mittlerweile über 700 tote Israelis gibt und man davon ausgehen muss, dass mehr als 100 Menschen, darunter viele Frauen und Kinder, als Geiseln genommen wurden, was auch aus militärischer Sicht eine Katastrophe ist, weil es die Situation extrem kompliziert macht. Gleichzeitig muss man ganz klar sagen: Die Hamas hat keine Möglichkeiten, ihren Erfolg nachhaltig umzusetzen. Aber ihr Ziel, die Überlegenheit der israelischen Armee zumindest in den Augen ihrer Sympathisanten in Zweifel zu ziehen, das hat sie erreicht.

Wie gefährlich wäre ein Zweifrontenkrieg für Israel? Wie gefährlich sind die Gegner, Hamas und libanesische Hisbollah, aus militärischer Sicht?

Das Problem ist immer die Gleichzeitigkeit. Es gibt den militärischen Begriff der Übersättigung. Viele Angriffe zur gleichen Zeit können dazu führen, dass ein Verteidiger nicht mehr in der Lage ist, sich so dagegen zu wehren, wie es eigentlich seinen Fähigkeiten entspricht. Der Gazastreifen ist dafür ein gutes Beispiel. Das israelische Luftabwehrsystem Iron Dome dient auch dazu, zu vermeiden, dass die israelische Armee mit Bodentruppen in den Gazastreifen oder in den Südlibanon eindringen muss. Wenn aber zu viele Raketen gleichzeitig gestartet werden, ist selbst der Iron Dome irgendwann überfordert, dann können potenziell verlustreiche Bodeneinsätze unvermeidlich werden. Das scheint jetzt auch der Fall zu sein, denn die israelische Armee hat bereits angekündigt, dass sie die Hamas ein für alle Mal ausschalten will. Wenn dann auch die Hisbollah im Südlibanon losschlägt, kann man davon ausgehen, dass die israelische Armee erheblich unter Druck gerät.

Haben Sie eine Prognose, wie lange dieser Krieg dauern wird?

Das kann man derzeit überhaupt nicht abschätzen. Aber aufgrund der unglaublichen Brutalität, mit der dieser Angriff von den Terroristen der Hamas durchgeführt wurde, und aufgrund der hohen Zahl der Toten und Verschleppten kann man davon ausgehen, dass Israel versuchen wird, die Hamas zu vernichten - was auch immer das konkret bedeuten wird. Insgesamt ist eine Eskalation zu erwarten, denn beim Versuch der Israelis, die Geiseln zu befreien und die Hamas zu bekämpfen, wird es zu einem massiven Einsatz von militärischen Mitteln kommen. Das wird die Hamas und ihre Sympathisanten weiter aufbringen und möglicherweise dazu führen, dass es zu einem Flächenbrand kommt.

Wenden wir uns noch kurz der Ukraine zu. Nach britischen Angaben hat die Ukraine in der Region rund um Welyka Nowosilka im Sommer "mit ziemlicher Sicherheit mindestens 125 Quadratkilometer Land" befreit. Ist das viel oder wenig?

Wenn man liest, was die Briten hier schreiben, dann muss man mit großer Ernüchterung sagen: Der Westen ist gerade dabei, sich einzugestehen, dass die ukrainische Offensive gescheitert ist. Im Wesentlichen sagt das britische Verteidigungsministerium, dass die Ukraine es bei der Befreiung dieser 125 Quadratkilometer geschafft hat, signifikante Teile der russischen Armee zu binden. Das ist aber bei weitem nicht das, was das operative Ziel war, nämlich der Durchbruch zum Asowschen Meer, verbunden mit dem strategischen Ziel, die Russen an den Verhandlungstisch zu zwingen. Ich würde sagen, dass die Briten hier versuchen, das Narrativ umzudeuten und so Schadensbegrenzung zu betreiben.

Wenn man sich anschaut, was in den letzten zwei Tagen passiert ist, so muss man leider sagen, dass die Russen es geschafft haben, an einigen Stellen in die Offensive zu kommen. Zum Beispiel im Raum Kupjansk im Osten der Ukraine, in der Oblast Charkiw. Zwischen Kupjansk und Iwaniwka, einer Ortschaft etwa 15 Kilometer südöstlich von Kupjansk, haben die Russen angefangen, in den Angriff überzugehen. In einer Art Vorbereitungsphase haben sie drei Brücken über den Oskil zerstört, um die ukrainischen Streitkräfte auf der östlichen Seite des Flusses zu isolieren. Diese Angriffe sind zwar verbunden mit russischen Verlusten. Aber trotzdem versuchen die Russen hier, das Momentum für sich zu gewinnen. Und eigentlich sollte ja das Gegenteil der Fall sein; eigentlich sollte die ukrainische Seite das Momentum haben.

Der ukrainische Journalist Denis Trubetskoy sagt, in der Ukraine werde angesichts der schwierigen Gegenoffensive im Süden "viel darüber diskutiert, ob die Zeit jetzt nicht doch gegen die Ukraine spielt". Wie sehen Sie das?

Genauso ist es. Militärische Offensiven haben vier Faktoren, die zu berücksichtigen sind: Kraft, Raum, Zeit und Information. Mit Blick auf den Faktor Kraft muss man sagen, dass die Ukraine die Masse ihrer Kräfte bereits eingesetzt hat, das neunte und zehnte Armeekorps. Es gibt hier keine signifikanten Reserven mehr. Der Raum ist durch die operative Absicht vorgegeben, bis zum Asowschen Meer durchzustoßen. Beim Faktor Information ist unklar, wie viele Kräfte die Russen noch verfügbar haben, um dagegenhalten zu können. Das vierte ist der Faktor Zeit: Die läuft den Ukrainern davon. Jetzt beginnt die Schlammperiode, die Rasputiza. Der Boden weicht auf, wird schlammig, und damit wird es für große Offensivbewegungen sehr schwierig. Man kann natürlich argumentieren, dass die Ukrainer mit ihrer Stoßtrupp-Taktik weiterhin in der Offensive bleiben können. Aber wenn es extrem kalt wird, müssen sie in erster Linie versuchen, den Winter zu überstehen. Das heißt, sie brauchen entsprechende Unterkünfte. Das ist ja ein Grund, warum die Ukraine so verzweifelt versucht, in Richtung Tokmak vorzustoßen. Im Moment liegen die Ukrainer im offenen Gelände, in Schützengräben zwischen Robotyne und Werbowe oder nördlich von Melitopol und Mariupol bei Welyka Nowosilka. Dort sind die Russen gerade dabei, die ukrainischen Stellungen mit Gleitbomben vom Typ FAB auseinanderzunehmen und ihnen so jede Möglichkeit zu verwehren, sich zur Verteidigung einzurichten.

Und der nächste Raketenwinter steht vor der Tür.

Die Russen beginnen bereits damit, eine zweite strategische Luftkampagne gegen die Ukraine durchzuführen. Wir haben bereits eine erhebliche Anzahl von bis jetzt knapp über 500 Shaheed-Drohnen gesehen - in einem Ausmaß, wie es in den vergangenen Monaten nicht vorgekommen ist. Es gibt auch bereits verstärkt Angriffe mit Marschflugkörpern auf die technische Infrastruktur. Das deutet darauf hin, dass dieser Winter besonders hart werden kann. Zumal es den Russen immer wieder gelingt, die ukrainische Flugabwehr auszuschalten. Erst am Wochenende haben die Russen nachweislich ein ukrainisches S-300-System zerstört. Aus meiner Sicht stehen die Zeichen hier auf Sturm.

Der CSU-Politiker Manfred Weber, Chef der Europäischen Volkspartei, sagt, die Absage der Taurus-Lieferungen durch Bundeskanzler Olaf Scholz werde "vom Regime in Moskau als Motivation verstanden werden, um auf dem bisherigen Weg des Kriegs und der Zerstörung weiterzumachen". Würden Sie ihm da recht geben?

Da hat er absolut recht. Russland sagt sich mittlerweile ganz klar: Ihr könnt so viele moderne Waffen liefern, wie ihr wollt, wir sitzen das einfach aus, denn wir sind davon überzeugt, dass ihr nicht die Energie und die Luft habt, das über einen längeren Zeitraum durchzuhalten. Dabei spielt ihnen der Krieg in Israel noch in die Hände.

Inwiefern?

Wenn Israel jetzt massiv gegen die Hamas vorgeht, werden die israelischen Arsenale nach einigen Tagen unter Druck geraten. Dann braucht Israel Anschlussversorgung aus den USA - das war auch in den letzten bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen der Hamas und Israel so. Dann werden schwer beladene Transportmaschinen aus den USA nach Israel fliegen und Nachschub bringen. Aber die Munition, die nach Israel geht, kann man nicht in die Ukraine schicken. Auch das ist ein Faktor, der die Russen zu der Überzeugung bringen dürfte, dass es gerade gut für sie läuft.

Mit Markus Reisner sprach Hubertus Volmer

Quelle: ntv.de

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