Historiker Friedman zum Absturz "Der Anschlag galt womöglich nicht Prigoschin"
24.08.2023, 18:56 Uhr Artikel anhören
Wagner-Anhänger trauern in Russland um die beiden Anführer der Söldnergruppe, Jewgeni Prigoschin und Dmitri Utkin.
(Foto: REUTERS)
Genau zwei Monate nach Jewgeni Prigoschins Aufstand stürzt das Privatflugzeug des Wagner-Chefs plötzlich ab. Doch was hat der 62-Jährige überhaupt in Russland gemacht, wenn er doch ins Exil nach Belarus geschickt wurde? Der Historiker Alexander Friedman glaubt, dass er vom Kreml in eine tödliche Falle gelockt wurde. Was Wladimir Putins Lieblingsresidenz damit zu tun hat, und warum der russische Präsident es möglicherweise nicht nur auf Prigoschin abgesehen hat, darüber spricht der Osteuropa-Experte im ntv.de-Interview.
ntv.de: Nach dem Absturz von Jewgeni Prigoschins Flugzeug dürften Wagner-Kämpfer ziemlich wütend auf den Kreml sein. Kommt es jetzt zu einem zweiten Marsch auf Moskau?
Alexander Friedman: Das ist keine leichte Frage. Es gibt widersprüchliche Informationen darüber, in welchem Zustand sich Wagner-Einheiten momentan befinden. Offenbar sind sie zerstreut: Ein Großteil ist in Afrika, die restlichen im Nahen Osten und in Belarus. Im Hinblick auf Belarus steht fest, dass sie keine schweren Waffen haben. Das ist ein Riesenunterschied zum Aufstand vor zwei Monaten. Da hatten die Wagner-Einheiten alles: Panzer, schwere Waffen und so weiter. Jetzt ist es ja nicht mehr der Fall. Selbst wenn es zu einer Racheaktion kommen sollte, dann stellt sich Frage, welche Waffen können sie da einsetzen?

Alexander Friedman wurde 1979 in Minsk geboren. Der promovierte Historiker lehrt Zeitgeschichte und Osteuropäische Geschichte an der Universität des Saarlandes und an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.
Trotzdem ist eine solche Aktion nicht ausgeschlossen. Letztendlich haben sie schon einmal einen Aufstand gemacht und können das ja wiederholen. Umso mehr, dass Prigoschin und gerade Wagners Militär-Chef Dmitri Utkin innerhalb von Wagner sehr beliebt waren. Von daher ist eine explosive Reaktion nicht auszuschließen. In Telegram-Kanälen gibt es Gerüchte darüber, dass die belarussischen Streitkräfte und Spezialkräfte bereits gestern für einen Notfall in Alarmbereitschaft versetzt worden sind. Damit man für den Fall gewappnet ist, wenn die Wagner-Truppen in Belarus tatsächlich rebellieren. Es gibt allerdings auch Berichte, wonach die Kämpfer derzeit aus Belarus abgeholt werden.
Alexander Lukaschenko hat während des Aufstands angeblich zwischen Putin und Prigoschin vermittelt. Der Wagner-Chef ging schließlich ins Exil nach Belarus. Der belarussische Diktator gab Prigoschin Sicherheitsgarantien. Jetzt ist dieser aber tot.
Was Lukaschenkos oder Putins Versprechen angeht - es wäre naiv gewesen, Menschen, die bereits mehrmals der Lüge überführt worden sind, Vertrauen zu schenken. Prigoschins Tod bringt Lukaschenko auf jeden Fall in eine schwierige Lage. Er hat mit dem Fall Prigoschin vor zwei Monaten ganz viel Eigenwerbung gemacht. Er war dauernd in belarussischen Medien mit seiner Darstellung der Geschichte unterwegs. Das hat man auch im Westen aufgegriffen. Was wir in diesen zwei Monaten ja erlebt haben, ist eine gewisse Aufwertung von Lukaschenko - als Schlichter, als derjenige, der einen Bürgerkrieg in Russland verhindert hat. Er hat diese Aufmerksamkeit und diese Aufwertung sichtlich genossen. Deswegen ist die heutige Situation für ihn sehr unangenehm, weil über sein gebrochenes Versprechen und seine Unzuverlässigkeit nun viel gesprochen wird.
Prigoschins Tod schadet also Lukaschenkos Ansehen?
Ja, aber die belarussische Propaganda versucht, für ihn eine gute Figur zu machen. Nämlich indem man heute behauptet, dass die Garantien von Lukaschenko nur auf dem Staatsgebiet von Belarus gültig gewesen seien. Also dass Lukaschenko versprochen habe, dass Prigoschin in Belarus nichts passieren würde. Und dieses Versprechen hat er ja angeblich eingehalten. Diese Version verbreitet die Propaganda, möglicherweise wird sie auch Lukaschenko selbst aufgreifen.
Was hat denn Prigoschin überhaupt in Russland gemacht? Es erscheint doch offensichtlich, dass er dort nach dem Aufstand in Gefahr ist. Warum denkt er, trotzdem ganz entspannt zwischen Moskau und St. Petersburg fliegen zu können?
Das ist tatsächlich eine interessante Frage. Sein letztes Video hat er vor wenigen Tagen in Afrika aufgenommen. Mit dieser Botschaft wollte er aus meiner Sicht betonen, dass er sich auf Afrika konzentriert, dass er mit Minsk und dem Kreml gar nichts mehr zu tun hat. Warum also nun diese Rückkehr nach Russland? Da gibt es etliche Spekulationen: Angeblich hat er ein Gespräch mit Putin gesucht. Möglicherweise ging es um Wagner in Afrika. Es gab vorher auch Gerüchte, dass Russland die Wagner-Einheiten in Mali, Burkina Faso und der Zentralafrikanischen Republik vereinnahmen und Prigoschin sozusagen rauswerfen wollte. Dafür spricht auch die Tatsache, dass der Präsident der Zentralafrikanischen Republik, Faustin-Archange Touadéra, heute zum BRICS-Gipfel in Johannesburg gekommen ist, um mit dem russischen Außenminister Sergej Lawrow über die Zukunft der Wagner-Söldner in seinem Land zu sprechen. Möglicherweise hat Prigoschin also sein Afrika-Geschäft in Gefahr gesehen und wollte mit Putin verhandeln.
Aber man muss auch sagen, in diesen zwei Monaten war er viel in Russland unterwegs, hatte dabei keine Probleme. Er war wohl der Meinung, dass ihm in Russland nicht viel passieren dürfte. Das klingt sehr naiv, aber möglicherweise war er doch überzeugt, dass sein Verhältnis mit der russischen Führung geregelt ist und dass man ihn in Ruhe lässt.
Gibt es irgendjemanden, der die Führung der Gruppe übernehmen kann? Oder ist es jetzt vorbei mit Wagner?
Ich glaube, mit der Wagner-Gruppe, wie wir sie kennen, ist es tatsächlich vorbei, weil die gesamte Führung ja tot ist. Neben Prigoschin waren auch Waleri Tschekalow, der für Operationen in Syrien zuständig war, und Dmitri Utkin, der militärische Chef und der eigentliche Gründer von Wagner, mit an Bord. Prigoschin war das Gesicht von Wagner, er hat die Gruppe nach Außen vertreten. Aber für die militärischen Einsätze, sei es in Afrika oder der Ukraine, war Utkin zuständig. Er war auch wohl derjenige, der den Marsch auf Moskau geplant hat. Und wir haben gesehen, wie spektakulär und erfolgreich dieser war. Also wenn diese Gründungsväter weg sind, dann sind Wagners Tage als Privatarmee wohl gezählt. Es wird spekuliert, dass das russische Verteidigungsministerium nun die restlichen Kämpfer übernimmt, und dann wird Wagner bloß eine Einheit der russischen Streitkräfte.
Sie haben gerade von Utkins bedeutender Rolle als Organisator des Marsches auf Moskau gesprochen. Kann es sein, dass der mutmaßliche Anschlag gar nicht in erster Linie Prigoschin gegolten hat, sondern ihm?
Das würde ich in der Tat nicht ausschließen. Prigoschin stand zwar immer im Vordergrund, aber er ist kein Militär. Er war als eine Person mit kriminellem Hintergrund für die Anwerbung von Häftlingen wichtig. Er konnte wunderbar und überzeugend mit Kriminellen kommunizieren. Aber für die militärischen Operationen war Utkin zuständig. In dieser Hinsicht war er gefährlicher für den Kreml.
Warum waren denn die beiden Anführer der Gruppe zusammen in einem Flugzeug unterwegs?
Das ist ziemlich überraschend. Wenn man ein solch riskantes Leben führt, wie Prigoschin und Utkin, ergibt es durchaus Sinn, dass man nicht gemeinsam fliegt. Ein wichtiges Detail muss man aber dabei beachten: Das Flugzeug ist nur knapp 50 Kilometer entfernt von Putins beliebter Residenz in Waldai abgestürzt. Dass die gesamte Wagner-Führung in einem Jet saß, spricht indirekt dafür, dass sie möglicherweise geglaubt haben, zu einem Treffen mit Putin unterwegs zu sein. Also, die Geschichte bleibt sehr mysteriös.
Kann man erwarten, dass in den nächsten Tagen neue Details ans Licht kommen?
Das ist gut möglich. Es gibt übrigens Gerüchte, dass Prigoschin ein Vermächtnis hinterlassen hat, in dem er angeblich aufgeschrieben hat, wie es weitergeht, sollte er getötet werden. Und was vielleicht noch spannender sein könnte - das sind ja wiederum Spekulationen - dass Prigoschin in den langen Jahren der Zusammenarbeit mit Putin und mit der russischen Regierung etliche Akten, also das Belastungsmaterial angesammelt hat. Und im Fall seines Todes soll das möglicherweise veröffentlicht werden. Das heißt, es ist zumindest nicht auszuschließen, dass uns in den nächsten Tagen spektakuläre Sensationen erwarten.
Mit Alexander Friedman sprach Uladzimir Zhyhachou.
Quelle: ntv.de