Politik

10.000 Lkw und nichts geht voranDer höllische Stau an der russisch-kasachischen Grenze 

02.12.2025, 19:23 Uhr
imageVon Kevin Schulte
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Russland und Kasachstan teilen eine über 7600 Kilometer lange gemeinsame Grenze. (Foto: IMAGO/SNA)

Ein kilometerlanger Lkw-Stau an der Grenze von Kasachstan zu Russland bringt den Warenverkehr zwischen beiden Ländern monatelang zum Erliegen. Der kasachische Zoll schaut plötzlich ganz genau hin. Die Russen genauso. Warum? Das weiß keiner so genau. Teils machen wilde Gerüchte die Runde.

Stoßstange an Stoßstange stauen sich Lastwagen an der kasachisch-russischen Grenze. Kilometerlang. Die Lkw-Kette wartet auf die Einfahrt nach Russland. Die Szenerie wiederholt sich im Herbst dieses Jahres gleich mehrfach. Ende Oktober ist die Lage besonders dramatisch. Tausende Lkw verharren scheinbar bewegungslos am Grenzposten Maschtakowo. Manche Medien berichten von zeitweise 5000 Lkw. Andere sprechen von bis zu 7500 oder sogar 10.000 Lkw. Was ist passiert?

Es ist Anfang September, als sich an der Oral-Samara-Straße die ersten Staus bilden. Die Straße führt aus dem äußersten Westen Kasachstans nach Russland. Sie ist ein wichtiger Knotenpunkt für den Warenverkehr zwischen den beiden Ländern. Die Grenzkontrollen dauern plötzlich länger als früher. Solange, dass sich die Straße in einen riesigen Lkw-Parkplatz verwandelt. Für die Lastwagen gibt es kein Vor und kein Zurück mehr.

"Die geopolitische Relevanz der Geschehnisse zeigt sich anhand der unterschiedlichen Deutung der Blockade", sagt der Postsowjetexperte Hannes Meissner im ntv-Podcast "Wieder was gelernt". "Von russischer Seite ist sogar ein Kampf um die Deutungshoheit entbrannt."

Denn obwohl das Thema beide Länder bewegt, ist unklar, wer oder was eigentlich für den Stau verantwortlich ist: der russische Zoll oder der kasachische? Wahrscheinlich beide, so unterschiedlich lauten die Erklärungen in den jeweiligen Ländern und Medien.

Der russische Zoll habe seine Kontrollen deutlich verstärkt, um sogenannte Graumarktimporte zu unterbinden, berichtet etwa die russische Medienplattform Alta. Dabei handelt es sich um Waren, die legal hergestellt sind, aber ohne Zustimmung des Markeninhabers in ein anderes Land importiert werden. "Sie werden als eine Gefahr für die Sicherheit Russlands dargestellt, weil sie für mögliche Sabotageakte verwendet werden könnten", erklärt Meissner.

"Chaos, Schlägereien, keine Toiletten"

Laut der russischen Internetseite Lenta sind die verschärften Kontrollen dagegen auf die kasachischen Behörden zurückzuführen. Demnach möchte Kasachstan den Schmuggel von sanktionierten Waren nach Russland unterbinden.

Doch viele Beobachter sind skeptisch: Sie sagen, verschärfte Kontrollen seitens der Kasachen können unmöglich der einzige Grund für die Verzögerungen am Grenzposten sein. Auch diejenigen, die legale Fracht transportieren, hätten teils wochenlang in ihren Lkw ausharren müssen, schreibt das russische Exilmedium Meduza. Manche Fahrer hätten ihre Laster nach einiger Zeit sogar aufgegeben. "Es herrscht Chaos, es gibt Unfälle, Streit, Schlägereien. Es gibt keine Toiletten, auch keine Möglichkeit, sich richtig zu ernähren", wird die Frau eines Lkw-Fahrers zitiert. "Dann ließ er seinen Lkw stehen. Sein Chef hat sich bereit erklärt, einen anderen Fahrer zu schicken, um ihn abzuholen."

Die russische Plattform Loc News zitiert einen weiteren Lkw-Fahrer, der von Schmiergeldzahlungen an der Grenze berichtet. "Viele Kollegen bezahlen Helfer, die die Zollabfertigung beschleunigen. 300 bis 1000 Dollar pro Lkw."

Kasachstans Schaukelpolitik

Kasachstan ist seit der russischen Vollinvasion in der Ukraine zu einem wichtigen Drehkreuz für sanktionierte Waren geworden. Konkret heißt das: Russland importiert über Kasachstan Güter aus dem Westen, die eigentlich nicht mehr nach Russland geliefert werden dürfen. Gleichzeitig versucht der kasachische Präsident Kassim-Schomart Tokayew, die Beziehungen zum Westen auszubauen. Kasachstan will allen gefallen, dem Westen, China und Russland. "Kasachstan hat wirtschaftlich und politisch immer versucht, eine gewisse Schaukelpolitik zu spielen", sagt Experte Meissner. "Zum einen bestehen große Abhängigkeiten zu Russland, die aufgrund der sowjetischen Vergangenheit überdominant sind. Zum anderen hat man versucht, mit China und dem Westen zu kooperieren."

Die russische Zeitung "Kommersant" zitiert einen Logistikmanager, der in dem Stau eine mögliche politische Wende Kasachstans sieht. Das Chaos sei "keine vorübergehende Störung, sondern eher eine neue Realität - strengere Kontrollen und eine bessere Einhaltung der westlichen Sanktionen".

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Blick auf die russisch-kasachische Grenze an der Fernstraße Richtung Samara: Die Situation am Grenzübergang Sirm (Syrym, im roten Kreis) am 21. November 2025 mit dem kilometerlangen Lkw-Stau. (Grenzverlauf hervorgehoben). (Foto: ntv.de | Satellitenfoto © Copernicus Sentinel Data 2025)

Im US-Wirtschaftsmagazin Forbes stützt ein Sicherheitsanalyst diese These. Kasachstan setze "endlich Sanktionen um, weil es sieht, dass die Kosten für die Unterstützung Russlands schnell steigen". Kasachstan sei zunehmend von westlichen Finanzströmen abhängig. Dadurch würden die politischen Entscheidungen des größten Binnenlands der Erde beeinflusst.

Abkehr von Russland?

Ist die Blockade der Beginn einer Abkehr von Russland? "Ich bin sehr skeptisch", sagt Meissner. "Ich halte die Blockade für einen symbolischen Akt. Kasachstan möchte gegenüber Russland demonstrieren, dass man eine souveräne Nation ist und sich gleichzeitig dem Westen als verlässlicher Partner präsentieren. Ganz im Sinne der traditionellen Schaukelpolitik."

Viele weitere Beobachter halten das Chaos eher für die Folge "routinemäßiger bilateraler Reibereien" und sehen keinen klaren Hinweis auf eine strengere Durchsetzung der Sanktionen.

Die kasachische Wochenzeitung "Uralskaya Nedelya" berichtet davon, dass Russland den Warentransit aus Kasachstan zum Erliegen gebracht hat, nachdem in Khorgos ein Schmugglernetzwerk aufgedeckt wurde. Der Ort beheimatet ein wichtiges Logistikzentrum der "Eurasischen Landbrücke" an der Grenze von Kasachstan zu China.

In kirgisischen Medien heißt es, dass bisher unbekannte Forderungen der russischen Zollbehörden einer der Gründe für das Grenzchaos sind. Demnach wollen die Russen Belege über Mehrwertsteuerzahlungen von den Lkw-Fahrern sehen. Auch das sei ein Grund für die massiven Verzögerungen.

Die Plattform "bne Intellinews", eine von ehemaligen Russland- und Kasachstan-Korrespondenten gegründete Seite, berichtet von der Theorie, dass Kasachstan für Russland mittlerweile weniger wichtig geworden ist. Demnach fokussiere sich Moskau inzwischen eher auf den Warenverkehr entlang den Grenzen zu China und zur Mongolei. "Was auch immer der Grund für die höllischen Lkw-Staus sein mag, das Problem ist ein Dorn im Auge der russisch-kasachischen Beziehungen", fasst "bne Intellinews" zusammen.

In ukrainischen Medien heißt es, die chaotischen Zustände an der kasachisch-russischen Grenze "verdeutlichen, wie sehr Russland von Transitländern abhängig ist". Der Lkw-Stau zeige, wie ein Nachbarland "die wirtschaftlichen Grundlagen Russlands destabilisieren" könne, auch wenn es einst "als gefügiger und zuverlässiger Partner galt".

Putin macht Chaos zur Chefsache

Die aktuellsten Informationen von der Grenze sehen folgendermaßen aus: Auf Satellitenaufnahmen vom 21. November - danach ließ eine Wolkendecke keine Rückschlüsse auf die Länge des Staus mehr zu - ist noch immer ein langer Stau zu sehen. Zur Einordnung: Nach ntv-Berechnungen war der Stau an diesem Tag auf russischer Seite rund 8,4 Kilometer lang, auf kasachischer Seite mindestens 4,1 Kilometer.

Wladimir Putin hat das Chaos inzwischen zur Chefsache gemacht. Der russische Präsident hat ein Notdekret erlassen, das die Einfuhr von Waren auf dem Landweg auch dann erlaubt, wenn diese nicht ordnungsgemäß verzollt wurden. Bedingung: Der Zollprozess muss nach dem Grenzübertritt in Russland nachgeholt werden.

Der Erlass gilt zunächst bis zum 10. Dezember, für die ordnungsgemäße Zollabfertigung gilt eine Frist bis zum 27. Dezember. Dabei handelt es sich um Fracht, die durch Kasachstan transportiert wird, also Waren aus China, Kirgisistan und anderen asiatischen Ländern.

Inzwischen hat sich der Kremlchef auch persönlich zum Grenzchaos geäußert. Es habe sich herausgestellt, dass eine "beträchtliche Anzahl Lastwagen die Grenze ohne jegliche Dokumente überqueren wollten", sagte Putin kurz und knapp. Dabei habe es sich um "illegale Importe" gehandelt. Der russische Staatschef hofft, dass die Grenzprobleme bis Ende des Jahres komplett gelöst sind.

"Wieder was gelernt"-Podcast

Dieser Text ist eigentlich ein Podcast: Welche Region schickt nur Verlierer in den Bundestag? Warum stirbt Ostdeutschland aus? Wieso geht dem Iran das Wasser aus? Welche Ansprüche haben Donald Trump und die USA auf Grönland?

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Quelle: ntv.de

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