Politik

Worst Case für die Demokratie Die Haushaltskrise droht zur AfD-Wahlkampfhilfe zu werden

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Das Karlsruher Haushaltsurteil kann massive Auswirkungen auf die Wahlen im kommenden Jahr haben. Denn Verunsicherung, die durch Veränderung ausgelöst wird, hilft Parteien wie der AfD.

Vom "Worst Case" für die Ampel war nach dem Karlsruher Urteil zum Bundeshaushalt die Rede. Auch wenn es die Regierenden kaum trösten wird: Schlimmeres liegt im Bereich des Möglichen. Denkbar ist nämlich auch noch ein "Worst Case" für die liberale Demokratie, der aus dieser Haushaltskrise erwachsen könnte. Und der hat mit der AfD zu tun.

Bisher wirkt die AfD in der Debatte um die Finanzen an den Rand gedrängt, sie spielt keine große Rolle. Das könnte sich rasch ändern. Denn mit den Folgen des Urteils für die Haushaltspolitik muss nicht allein die Bundesregierung, sondern müssen auch CDU-geführte Landesregierungen umgehen. In Kiel will die schwarz-grüne Landesregierung schon diese Woche eine "Notlage" für 2023 und 2024 ausrufen, um im Landeshaushalt bereits verplante Milliarden zu retten. Die AfD hingegen ist nirgends in Verantwortung. Womöglich entscheidet sich aber in diesen Tagen, ob sie diesem Ziel einen großen Schritt näherkommt.

Dazu muss man etwas ausholen: Die Milliarden, die die Bundesregierung nun nicht mehr ausgeben darf, waren für die sogenannte Transformation, also den Umbau der Industrie hin zu klimaneutraler Produktion vorgesehen. Bei den zu fördernden Projekten geht es vorrangig um den Schutz des Wirtschaftsstandorts, von Arbeitsplätzen und Wohlstand - weniger um den Schutz des Klimas, wie manche verkürzt behaupten. Ein solch aufwendiger Umbau der Industrie führt zu sehr viel Verunsicherung: Für manche Angestellte ändern sich die Jobanforderungen, bei anderen fällt der langjährige Arbeitsplatz komplett weg, neue entstehen. An welchen Standorten neue Arbeitsplätze entstehen, entscheidet sich auch an den Rahmenbedingungen, die der Staat setzt. In China und in den USA investiert der Staat massiv in klimaneutrale Technologien. Deutschland ist im Wettlauf mit solchen Staaten gerade heftig ins Stolpern geraten.

Verunsicherung hilft der AfD

In der Gesellschaft steigt damit die Transformationsverunsicherung, von der die AfD ohnehin schon profitiert: Eine Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) belegt, dass die AfD in Transformationsregionen überdurchschnittlich stark ist - und zwar mit beeindruckender Konstanz: Bei den Bundestagswahlen 2021, im aktuellen bundesweiten Umfragehoch und auch bei den jüngsten Landtagswahlen in Hessen und Bayern liegen die AfD-Hochburgen in Landkreisen mit hohem Beschäftigungsanteil in energieintensiven Unternehmen oder der Automobilindustrie. In den Transformationsregionen Bayerns schnitt die AfD durchschnittlich um 3,1 Prozentpunkte besser ab als in Bayern insgesamt. In den hessischen Umbruchsregionen war es immerhin ein Plus von 2,6 Prozentpunkten.

Transformation ist nach der Migration zum Mobilisierungsthema für die AfD geworden. In Bayern und Hessen war die Wirtschaft laut Infratest-Dimap jeweils das zweitwichtigste Thema für AfD-Wählende. Ebenso war in diesem Sommer bundesweit der Themenkomplex Energie- und Klimapolitik für AfD-Anhänger das zweitwichtigste Thema. Die Zielgruppe, die die AfD mit diesem Thema anspricht, nennt man in der Politikwissenschaft potenzielle "Modernisierungsverlierer". Es handelt sich weniger um arme oder arbeitslose Menschen, sondern eher um einen Teil der Mittelschicht, der sich angesichts eines Strukturwandels einer Abstiegsbedrohung ausgesetzt sieht.

In erster Linie ist dies ein "soziotropisches", ein umfeldbezogenes Bedrohungsgefühl. Übersetzt heißt das: Die Zukunftsangst ist nicht primär Folge der persönlichen wirtschaftlichen Lage, sondern hängt stärker von den Stressfaktoren im unmittelbaren Umfeld ab - im Betrieb, im Wohnort, im Bekanntenkreis. Der Landkreis Sonneberg in Thüringen, aufgrund seiner energieintensiven Branchen wie der dort stark vertretenden Glasindustrie ebenfalls als Transformationsregion klassifiziert, ist für solche Stressfaktoren ein gutes Beispiel: Die Arbeitslosigkeit ist zwar gering, aber die Bevölkerung alt, die Löhne niedrig, die Wachstumschancen klein, die Infrastruktur schwach. Dort feierte die AfD mit dem Gewinn der Landratswahlen ihren bislang größten Erfolg. Ob Bayern, Hessen oder Thüringen: Die AfD entlastet die Menschen mit multipler Realitätsleugnung vom Veränderungsdruck.

Ohne FDP und Grüne könnte Höcke Ministerpräsident werden

Der Stress in den Transformationsregionen dürfte nach dem Urteil des Verfassungsgerichts weiter steigen und dementsprechend auch die Nachfrage nach dem Entlastungsangebot der AfD. Aus dem Bundeswirtschaftsministerium heißt es, dass nun satte 50 Milliarden an geplanten Investitionen in die Transformation Ostdeutschlands auf der Kippe stehen. Damit könnte die Haushaltskrise weniger als ein Jahr vor den Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg zur entscheidenden Wahlkampfhilfe für die AfD werden.

In Thüringen liegt die Partei mit 34 Prozent an erster Stelle in den Umfragen. Über ein Drittel der Landkreise im Freistaat gelten als Transformationsregionen. In einem Szenario, in dem FDP und Grüne es nicht über die Fünfprozenthürde schaffen und die AfD mit dem Rückenwind der Folgen des Karlsruher Urteils noch ein paar Prozentpunkte drauflegt, könnte es für die Rechtsextremen für die absolute Mehrheit der Sitze im Thüringer Landtag reichen. Dann würde Björn Höcke Ministerpräsident. Das ist heute kein unwahrscheinliches Szenario: Die Thüringer FDP liegt bei mehreren Instituten derzeit bei vier Prozent, den Grünen geht es nicht viel besser und sie haben zudem das Problem, dass sie spiegelbildlich zur AfD bei den letzten Landtagswahlen in den Transformationsregionen in Hessen und Bayern deutlich unter ihrem Landesdurchschnitt abgeschnitten haben.

Schon jetzt schürt das Urteil enorm viel Verunsicherung, bei Investoren, Unternehmen, Arbeitskräften und vor allem bei Menschen, die die Inflation ohnehin im Portemonnaie spüren. Die bisherige Reaktion der Ampel-Parteien, aber auch der Union, auf das Gerichtsurteil wirkt alles andere als stressreduzierend. Kürzungen bei Sozialleistungen oder ein Ende der Gas- und Strompreisbremse würden die Sorgen noch erhöhen. Die Ratlosigkeit und die Gereiztheit der Regierenden strahlt eine Notlage aus, die weit über den Haushalt hinausgeht. Alle demokratischen Kräfte sind aufgefordert, konstruktiv über Lösungen zu reden, die den Transformationsregionen und Menschen mit Zukunftssorgen eine konkrete Perspektive bieten. Ansonsten könnte die Haushaltskrise zur nächsten Rampe für die AfD werden. Dann droht eine Notlage der Demokratie.

Quelle: ntv.de

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