Politik

Reisners Blick auf die Front "Die Offensive ist ins Stocken geraten"

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Vergangene Woche feiert die Ukraine im Süden des Landes einen wichtigen Durchbruch bei Robotyne. Russland reagiert seitdem mit heftigem Artilleriefeuer und Drohnenbeschuss, um die Ukraine an weiteren Vorstößen zu hindern. "Die Ukraine muss sich neu konsolidieren", sagt Oberst Markus Reisner. Doch die Zeit ist knapp: Der Herbst steht vor der Tür und läutet die Schlammperiode ein. Das sei jedoch kein Grund, dass sie Offensive vollständig zum Erliegen käme, so Reisner im wöchentlichen Interview mit ntv.de.

ntv.de: Die ukrainische Offensive läuft bereits seit 100 Tagen - und laut dem US-Generalstabschef Mark Milley bleiben der Ukraine weniger als 45 Tage Zeit, bis die Schlammperiode einsetzt. Geht es jetzt in den Endspurt?

Markus Reisner ist Oberst des österreichischen Bundesheeres und anaylsiert jeden Montag für ntv.de die Kriegslage in der Ukraine.

Markus Reisner ist Oberst des österreichischen Bundesheeres und anaylsiert jeden Montag für ntv.de die Kriegslage in der Ukraine.

(Foto: privat)

Markus Reisner: In den letzten Tagen haben die Kämpfe vor allem im Zentralraum eher etwas nachgelassen. Es gibt von ukrainischer Seite nicht mehr permanente Angriffe mit Panzern und Kampfschützenpanzern, mit dem Versuch durchzubrechen. Stattdessen ist es so, dass die ukrainische Offensive gerade eine operative Pause einlegt. Dafür gibt einige Indikatoren: Beispielsweise versucht die Ukraine gerade, Truppen zu rotieren, also neue Kräfte nach vorne zu bringen und alte abgekämpfte Kräfte zurückzubringen. Das sieht man etwa daran, dass sie versuchen, in der Tiefe neue Kräfte bereitzustellen, diese aber nicht sofort an die Front bringen.

Warum nicht?

Die Kräfte, die zum Beispiel vorne bei Robotyne an der Front sind, stehen unter Dauerbeschuss der Russen. Einerseits mit Artillerie, aber vor allem durch den Einsatz von Kamikaze-Drohnen oder First-Person-View-Drohnen. Diese Angriffe zielen auf die Nachschublinien. Das zieht sich übrigens die ganze Front entlang, von Robotyne im Zentralraum bis in den Nordosten bei Bachmut und auch im Süden bei Cherson. Auch die Ukrainer setzen dabei erfolgreich ihre Drohnen ein.

Es heißt, die Russen versuchen gerade massiv, die Reserven und den Nachschub der Ukrainer abzuschneiden. Ist das die Antwort auf die erfolgreichen Vorstöße der Ukrainer?

Genau. Die Ukraine versucht diesen Erfolg, den "Fuß in der Tür", wie ich das letzte Woche beschrieben habe, weiter auszuweiten. Sie versuchen südlich von Robotyne bei Nowoprokopiwka einen weiteren Fuß hineinzuzwängen. Die Russen wiederum wollen das verhindern. Einerseits, indem sie ihre eigenen Reserven in Stellung bringen. Teile der 76. Garde-Luftsturmdivision haben nordöstlich von Tokmak bereits Stellungen bezogen, und weiteres schweres Gerät der 41. Armee ist im Anlauf. Zum anderen versuchen sie, durch Artillerie und weitreichenden Kamikaze-Drohnen, die Versorgungsstränge der Ukraine in der Tiefe hinter Robotyne zu unterbrechen, damit sie nicht in der Lage ist, die Offensivführung weiter zu nähren.

Haben die Russen damit Erfolg?

Das lässt sich noch nicht sagen. In jedem Fall gibt es Indizien, dass die ukrainische Offensive ins Stocken geraten ist. Sie haben US-Generalstabschef Mark Milley erwähnt, der gesagt hat, dass der Ukraine nur noch 30 bis 45 Tage Zeit bleiben, um diese Offensive zu einem Ergebnis zu bringen. Der Faktor Zeit verändert sich aufgrund des Einsetzens der Regenfälle und der Verschlammung des Bodens zuungunsten der Ukraine. Andererseits gibt es die Aussage vom ukrainischen Geheimdienstchef Kyrylo Budanow, die Offensive werde trotzdem weitergehen. Die Ukraine werde auch bei schlechtem Wetter weiter angreifen, auch wenn das bedeutet, dass sie nur in kleinen Gruppen angreifen können. Auch interessant ist, dass die USA nun doch ernsthaft darüber nachdenken, der Ukraine Boden-Boden-Raketen vom Typ ATACAMS zu liefern. Das ist ein klarer Hinweis darauf, dass man versucht, die Ukraine mit wirksamen weitreichenden Waffensystemen zu unterstützen und den Druck auf die Russen zu erhöhen.

Zu hören, dass die Offensive ins Stocken geraten sei, ist überraschend, da in den letzten Tagen sowohl von ukrainischer Seite als auch vom Institute for the Study of War (ISW) immer wieder betont wurde, dass es viel Bewegung gibt und vorangeht.

Das stimmt. Ich denke, das ist vor allem der Versuch, die Moral der Soldaten hochzuhalten und zu zeigen, dass es vorangeht. Betrachtet man aber die Bilder vom Schlachtfeld, ist keine signifikante Verbesserung gegenüber der letzten Woche zu sehen. Zu sehen ist, dass die ukrainischen Soldaten zum Teil die Stützpunkte der russischen Seite eingenommen haben und versuchen, sich hier unter Dauerbeschuss der russischen Seite zu konsolidieren und Rotationen durchzuführen. Der signifikante Durchbruch durch die Gefechtsvorpostenlinie und der Einbruch der ersten Verteidigungslinie vor circa zehn Tagen hat sich nicht weiter fortgesetzt. Man kommt zwar noch langsam voran, aber immer nur wenige hunderte Meter.

Das heißt, die ukrainischen Truppen befinden sich nach wie vor zwischen der ersten und zweiten Verteidigungslinie?

Ja, die Ukraine steht jetzt an der ersten Verteidigungslinie und versucht grob zwischen Robotyne und Werbowe durchzubrechen. Anhand Dutzender Bilder und Videos, die jeden Tag reinkommen, sehen wir eine Vielzahl von Gefechten auf unterster taktischer Ebene und dass die Ukraine versucht, sich zu konsolidieren, es aber noch nicht schafft, weiter vorzustoßen.

Wie stehen die Chancen, dass die Ukraine vor dem Einsetzen der Schlammperiode auch noch die zweite und dritte Verteidigungslinie südlich von Robotyne und nördlich von Tokmak durchbrechen können?

Das hängt ganz davon ab, inwieweit die Ukraine in der Lage ist, neue Kräfte nachzuschieben und neuen Druck auszuüben. In diesem Zusammenhang sind aber auch Aussagen von Präsident Selenskyj oder US-Generalstabschef Milley interessant, die sagen, dass dieser Krieg ein langer ist und man der Offensive keinen Endpunkt geben möchte, sondern selbst dann weiter macht, wenn die Schlammperiode beginnt und bis in den Winter hinein.

Sobald die Rasputiza, also die Schlammzeit, einsetzt, kommen die Panzer nicht mehr gut voran. Wie müssen die Ukrainer ihre Militärtaktik ändern, um die Offensive am Laufen zu halten?

Die Ukraine hat in den letzten 100 Tagen schon mehrmals gezeigt, dass sie in der Lage ist, sich anzupassen. Das Signifikanteste bisher war, als sie von einem massiven mechanisierten Angriff dazu übergegangen ist, mit kleinen Sturmgruppen vorzugehen. Das sieht man jetzt wieder: Die Ukraine versucht durch Unterstützung von Artillerie, aber auch einzelnen Kampfpanzern den Gegner niederzuhalten und dann in kleinen Gruppen entlang der Baumreihen und Windschutzgürteln vorzustoßen. Das ist auch möglich, wenn die Witterungsbedingungen sich verändern und immer mehr Schlamm entsteht. Das Problem ist, dass es nur sehr langsam vorangeht und sehr verlustreich ist, weil die Ukrainer so relativ ungeschützt sind im Vergleich zu einem gepanzerten Fahrzeug.

Was würde aus militärischer Sicht für die Ukraine jetzt Sinn ergeben in den nächsten Wochen, bis die Schlammperiode einsetzt?

Die Ukrainer müssen versuchen, die gegnerischen Verteidigungsstellungen weiter zu schwächen. Interessant ist, dass die Ukraine nun auch das HIMARS-System, das man eigentlich für Angriffe weit in der Tiefe des Gegners nutzt, unmittelbar an der Front einsetzt. Sie greifen damit immer wieder taktische Ziele an, das heißt, Stützpunkten der Hauptverteidigungslinie. So versucht die Ukraine die Verteidigungslinien so zu schwächen, dass die eigenen Kräfte nach der Konsolidierung in der Lage sind, weiter vorzustoßen.

Wie sieht es am Rest der Front aus?

Südlich von Bachmut versucht die Ukraine massiv Richtung Osten vorzustoßen. Da gibt es eine wichtige Eisenbahnlinie, die Richtung Süden führt. Das ist ein natürliches Geländehindernis, das die ukrainische Seite versucht, zu kontrollieren. Nördlich davon bei Kupjansk versuchen die Russen noch immer, Richtung Westen vorzustoßen, konnten aber nicht wirklich weiter Fuß fassen. Bei Donezk gelang ein überraschender Vorstoß auf Opytne. Im Südwesten bei Cherson setzt sich der Versuch der Ukrainer fort, durch Anlandungen russische Luftstreitkräfte abzulenken, damit sie nicht im Zentralraum eingesetzt werden können. In diesen Zusammenhang steht, dass selbst auf der Krim ukrainische Spezialkräfte angelandet sind und dass es nun auch gelungen sein soll, die Bohrplattformen "Tavrida" und "Petro Hodovalets" im Schwarzen Meer zurückzuerobern.

Mit Markus Reisner sprach Vivian Micks

Quelle: ntv.de

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