Politik

Reisners Blick auf die Front"Die Russen bomben die ukrainischen Stellungen sturmreif"

08.12.2025, 18:40 Uhr
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Ein ukrainischer Soldat an einer Haubitze in Saporischschja (Archivbild) (Foto: picture alliance / abaca)

"In einer zukünftigen Auseinandersetzung mit China soll Russland an der Seite der USA stehen", interpretiert Oberst Markus Reisner die neue Sicherheitsstrategie der USA. Den Preis für Trumps Annäherung an Russland zahle Europa - und die Ukraine. Die europäischen Unterstützer der Ukraine müssten sich nun entscheiden: "Immer nur so viel Unterstützungsleistung zu liefern, damit der Krieg in etwa weitergehen kann wie bisher, ist höchst unmoralisch." Sowohl hinter der Front als auch im Kampfgeschehen stehe die Ukraine enorm unter Druck, so Reisner.

ntv.de: Politiker, Wissenschaftler und Militärs diskutieren letzte Woche publik gewordene, neue US-Militärstrategie. Was lesen Sie da?

Markus Reisner: Die USA wenden sich von Europa ab. Die National Security Strategy warnt sehr drastisch vor einer sogenannten "zivilisatorischen Auslöschung" Europas. Ziel der Strategie ist, dass die USA sich weniger in Europa engagieren. Sie wollen mehr Präsenz in Lateinamerika zeigen. Als Hauptziel wird indes der indopazifische Raum definiert.

Letzteres ist eine Neuausrichtung, die schon unter US-Präsident Obama begann, oder?

Ja. Interessant ist, dass die USA sich militärisch neu aufstellen wollen. US-Truppen werden demnach aus Europa weg in andere Räume verlegt. Zudem verfolgt die Strategie das Ziel einer strategischen Stabilität zwischen den USA und Russland. Das alles muss Europa Sorgen bereiten.

Markus-Reisner-ist-Historiker-und-Rechtswissenschaftler-Oberst-des-Generalstabs-im-Oesterreichischen-Bundesheer-und-Leiter-des-Institutes-fuer-Offiziersgrundausbildung-an-der-Theresianischen-Militaerakademie-Wissenschaftlich-arbeitet-er-u-a-zum-Einsatz-von-Drohnen-in-der-modernen-Kriegsfuehrung-Jeden-Montag-bewertet-er-fuer-ntv-de-die-Lage-an-der-Ukraine-Front
Markus Reisner ist Historiker und Rechtswissenschaftler, Oberst des Generalstabs im Österreichischen Bundesheer und Leiter des Institutes für Offiziersgrundausbildung an der Theresianischen Militärakademie. Wissenschaftlich arbeitet er u.a. zum Einsatz von Drohnen in der modernen Kriegsführung. Jeden Montag bewertet er für ntv.de die Lage an der Ukraine-Front. (Foto: privat)

Was verbirgt sich hinter dem Begriff "strategische Stabilität"?

Aus meiner Sicht geht es den USA darum, Russland aus der chinesischen Umklammerung herauszuführen. In einer zukünftigen Auseinandersetzung mit China soll Russland an der Seite der USA stehen. Darüber hat auch US-Präsident Trump bei seinem Gipfeltreffen mit Putin in Alaska öffentlich gesprochen. Den Europäern gefällt diese Hinwendung nach Moskau natürlich nicht, weil Washington sie dafür zur Seite schiebt.

Das Strategiepapier ordnet Europa gar als Gegner der USA ein.

Das ist die maximal negative Interpretation dessen, was da geschrieben steht. Aber diese Deutung passt zu der im Strategiepapier erhobenen Forderung, die europäischen Regierungen müssten durch Oppositionsparteien abgelöst werden, um eine "zivilisatorische Auslöschung" zu verhindern.

Wo ist der strategische Mehrwert für die USA, ihre über Jahrzehnte teuer erkaufte Präsenz auf dem europäischen Kontinent zu schwächen?

Die Europäer sollen gezwungen werden, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Bis 2027 sollen die Europäer im Rahmen der Nato konventionelle Aufgaben selbst stemmen können. Dann könnten die USA ihre Truppen abziehen und Europa bliebe zumindest der nukleare Schutzschirm der USA erhalten.

Wäre das ein stärkeres Bündnis oder dessen Ende, weil man einander nicht mehr so dringend braucht?

Ein erfolgreiches Bündnis braucht vor allem Augenhöhe unter den Verbündeten. Davon sind wir aber immer weiter entfernt. Hinzukommt, dass die Europäer nicht vollständig kompensieren können, was seitens der USA wegfiele. Nehmen Sie das Beispiel Flugabwehr: Die Abwehr von Mittelstreckenraketen in Europa ruht auf den Schultern der USA, die entsprechende ortsfeste AEGIS-Systeme in Polen und Rumänien installiert haben in Kombination mit seegestützten AEGIS-Kreuzern in der Ostsee, Nordsee und im Mittelmeer. Das kann vorerst auch das Arrow3-System nicht ersetzen, das Deutschland jetzt errichtet.

Von einer Annäherung der USA und Russlands ist auf dem Schlachtfeld nichts zu sehen. Man kommt bei Verhandlungen über einen Frieden in der Ukraine offenbar nicht voran, oder?

Wir hören Trump, der sagt, die Ukraine habe keine Karten mehr im Spiel. Wir hören Putin, der sagt, er werde den Donbass mit Gewalt einnehmen, wenn die Ukraine ihre Truppen nicht abzieht. Derweil treffen sich Unterhändler Washingtons und Kiews zur nächsten Verhandlung. Eine relevante Annäherung in Richtung eines Friedens- oder Waffenstillstandsabkommens kann ich aus all dem nicht erkennen. Derweil wird die Position der Europäer schwächer: Noch immer findet man keinen Weg, die in Belgien eingefrorenen russischen Vermögenswerte für die Ukraine nutzbar zu machen.

Offenbar hat Belgien, wo das Geld liegt, Angst, selbst als EU- und NATO-Mitglied im Falle russischer Repressalien allein da zu stehen.

Das ist ein Problem, ja. Aber die mangelnde Finanzierung der Ukraine ist die große Herausforderung: Dem Land fehlen für die kommenden zwei Jahre geschätzte 160 Milliarden Euro. Darauf hat Europa noch keine durchdachte gemeinsame Antwort gefunden.

Genauso wenig wie auf die Luftangriffe Russlands gegen die kritische zivile Infrastruktur.

Russland greift seit 1. Dezember eigentlich laufend an, mit seit Monatsbeginn mehr als 1600 Drohnen, Marschflugkörpern und Raketen. Fast die Hälfte, mehr als 700, ging allein in der Nacht zum 6. Dezember über der Ukraine nieder. Das war der sechste Großangriff seit Anfang November. Russland steigert die Taktung seiner Luftangriffe erheblich - mit dem Ergebnis drastischer Einbrüche in der Strom- und Gasversorgung.

Bundeskanzler Merz trifft in London den englischen Premier Starmer, Frankreichs Präsidenten Macron den ukrainischen Staatchef Selenskyj. Könnten die Europäer mehr Luftverteidigungssysteme zur Verfügung stellen, wenn sie denn wollten?

Für die Verteidigung mittlerer Reichweiten ist das europäische Äquivalent zum amerikanischen Patriot-System das SAMP/T-System in Kombination mit Aster-Raketen. Doch während die USA inzwischen 1000 Patriot-Raketen im Jahr herstellen, hat Europa seine Produktion von SAMP/T in den vergangenen vier Jahren nicht wesentlich erhöht mit etwa 100 bis 150 Stück im Jahr. Europa kann damit nicht einmal sich selbst ausreichend schützen, weshalb Europa wiederholt den Kauf von Patriot für die Ukraine finanziert hat.

Deren Auslieferung kann Trump nach Lust und Laune beschleunigen oder stoppen.

Richtig. Präsident Selenskyj hat den Bedarf mit 27 Patriot-Batterien beziffert, um den russischen Angriffen etwas entgegenzusetzen. Im Einsatz sind aber nur acht bis neun Batterien, die zudem immer wieder beschädigt oder zerstört werden. Die Russen setzen ihre Drohnen, Raketen und Marschflugkörper nicht nur in hoher Zahl, sondern inzwischen auch sehr geschickt ein. Dass die Russen ihre Ziele oft treffen, erkennen Sie an den Bildern vom dunklen Kiew. Der Strom ist jetzt sehr oft oder meistens weg. Es gibt bis zu 16 Stunden pro Tag keinen Strom.

Wie wirkt sich dieses Geschehen im Hinterland, die Moral der Menschen dort auf das Kampfgeschehen an der Front aus?

Die Russen wollen die ukrainische Bevölkerung in die Knie zwingen und zugleich der Ukraine die Basis für den Krieg nehmen, etwa indem die kriegswichtige Produktion gestört und zerstört wird. Der Krieg hat einen Punkt erreicht, an dem die Europäer entweder die Ukraine bedingungslos unterstützen oder sich eingestehen müssen, dass sie dazu nicht bereit sind. Dann muss man der Ukraine klarmachen, dass die den Krieg beenden muss - egal wie schlimm dann die Konditionen sind. Aber immer nur so viel Unterstützungsleistung zu liefern, damit der Krieg in etwa weitergehen kann wie bisher, ist höchst unmoralisch.

Damit sind wir beim Frontgeschehen. Was ist Ihnen aufgefallen?

Wir haben über die Luftverteidigung gesprochen. Die fehlt der Ukraine zusätzlich auch an der Front. Die Russen schießen aus sicherer Entfernung, von bis zu 160 Kilometern, ihre Gleitbomben aus Flugzeugen ab. In den umkämpften Städten Huljajpole, Pokrowsk und Mirbograd zerstören die Russen mit diesen Gleitbomben einen Häuserblock nach dem anderen. Das schont die eigenen Truppen und bringt die in den Häusern verschanzten ukrainischen Truppen in eine extrem schwierige Situation. Die Russen bomben die ukrainischen Stellungen sturmreif, schicken Drohnen und marschieren erst dann mit kleinen Stoßtrupps vor.

Die russische Winteroffensive rollt?

Ja, die Winteroffensive ist in vollem Gange, und zwar über alle drei Frontabschnitte Nord, Mitte und Süd. Der Ukraine gelingen zwar immer wieder erfolgreiche Gegenangriffe, aber die können den russischen Vormarsch nicht stoppen. Die Ukraine hat einfach zu wenige Soldaten und das Momentum liegt ganz klar bei Russland. Ein Wort zum Mittelabschnitt …

Bitte.

Siwersk liegt sehr exponiert in der Mitte des Mittelabschnitts. Aus meiner Sicht werden die Ukrainer die Verteidigung nicht mehr lange durchhalten können. Siwersk und der Kreminna-Wald nördlich davon waren über Jahre ein wichtiges Bollwerk. Der Wald ist schon an die Russen gefallen. Fällt auch Siwersk, könnten die Russen theoretisch einen relativ großen Sprung Richtung Slawjansk und Kramatorsk machen.

Und im Südabschnitt? Ist die 700.000-Einwohner-Stadt Saporischschja akut bedroht?

Bei Huljajpole sind die Russen über eine Breite von 35 Kilometern binnen weniger Wochen um 15 Kilometer vorgestoßen in Richtung Saporischschja. Wenn das so weiterginge, wäre das verheerend. Sobald die Stadt in die Reichweite russischer Drohnen, Raketenwerfer und Artillerie gerät, drohen Angriffe auf die Zivilbevölkerung. In der Stadt Cherson machen russische Drohnenpiloten regelrecht Jagd auf Zivilisten. Sollten die Russen auf 50 Kilometer oder weniger an Saporischschja herankommen, wird sich das tägliche Leben dort so nicht mehr aufrechterhalten lassen.

Mit Markus Reisner sprach Sebastian Huld

Quelle: ntv.de

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