Das Unglück von Beirut "Die Schuldigen sind noch unter uns"
08.08.2021, 20:17 Uhr
Zum Jahrestag der Explosion von Beirut protestieren Libanesen nahe des Unglücksortes gegen die Immunität von Verantwortlichen.
(Foto: imago images/NurPhoto)
Kurz nach der Explosion in seiner Heimatstadt Beirut schilderte der Politologe Khaled Amer am Telefon die Verzweiflung, aber auch den Zusammenhalt der Menschen. Seit dem Unglück ist der Libanon immer tiefer in eine Wirtschaftskrise gerutscht, heute fehlen Treibstoff, Medizin, Elektrizität, ist sogar Nahrung knapp. Amer, den wir nur so nennen, um ihn und seine Familie zu schützen, spricht erneut mit ntv.de - über Beirut ein Jahr danach und darüber, was die Verantwortlichen so unangreifbar macht.
ntv.de: Wie geht es Ihnen heute?
Khaled Amer: In diesem Moment haben wir mal wieder keinen Strom. Mein Handy hat noch 20 Prozent Ladung, wir müssen uns mit dem Interview beeilen, denn ich kann nicht aufladen. Wir bekommen nur zwei Stunden lang Elektrizität über das reguläre Stromnetz und es fehlt an Benzin, um den Rest mit Generatoren auszugleichen. Insgesamt kommen wir maximal auf sieben Stunden Strom pro Tag.
Und ansonsten - unter welchen Bedingungen leben Sie persönlich derzeit?
Wir leiden unter der starken Hitze, weil natürlich auch die Air Condition nicht läuft. Der Alltag dreht sich darum, überlebenswichtige Dinge zu besorgen: Es gibt hier kein Milchpulver für unser Baby. Wir können es nur bekommen, indem wir zum Beispiel Reisende nach Dubai bitten, welches mitzubringen. Das kostet uns dann 30 Dollar pro Dose. Ein Topf Joghurt kostet in Beirut derzeit 20 Dollar. In den letzten Tagen hatten meine Frau und mein Schwiegervater eine Lebensmittelvergiftung, denn in der Sommerhitze wird das Essen schnell schlecht, weil der Kühlschrank ja nur sieben Stunden kühlt. Das Baby wird immer wieder krank. Ich selbst habe auch ständig Magenprobleme und weiß nie, ob es die Nerven sind oder verdorbenes Essen.
Vor einem Jahr sagten Sie, dass Sie direkt nach dem Schock der Explosion entschieden hatten, das Land zu verlassen. Aber die Solidarität Ihrer Mitmenschen hat Ihnen Mut gemacht, doch zu bleiben. Konnten Sie sich diese Zuversicht über das Jahr bewahren?
In den Tagen nach dem Unglück machte es mich sprachlos, wie sehr die Menschen zusammenhielten. Wir fegten Glassplitter weg, fütterten uns gegenseitig durch und hörten anderen zu, wodurch viel von dem Leid unseres Landes offenbar wurde. Vorher Unsichtbares wurde sichtbar. Ich will nicht sagen, dass all das vorbei ist. Aber durch die Wirtschaftskrise und weil in der Politik niemand auf das hört, was die Menschen fordern, gerät das Leben aus den Fugen. Im Juli und auch vergangenen Mittwoch, am Jahrestag der Explosion, attackierte die Polizei mit Tränengas und Schlagstöcken Protestierende, darunter auch Angehörige von Opfern. Wir leben im 21. Jahrhundert, aber besitzen keine Grundrechte.
Wogegen wurde demonstriert?
Die Menschen protestierten gegen die Entscheidung des Innenministers, hochrangige Leitungskräfte, etwa den mächtigen Geheimdienstchef, davor zu schützen, vor Gericht zur Lagerung des Ammoniumnitrats befragt zu werden. Ein Jahr nach der Explosion dieses Giftstoffs im Hafen sind die Schuldigen noch immer unter uns. Am Trauertag sprach der Präsident des Libanon, Michel Aoun, gerade mal zwei Minuten im Fernsehen über das Unglück. Das war's von seiner Seite.
Vor einem Jahr hatten Sie die Hoffnung, dass internationale Ermittlungen helfen würden, die Schuldigen zur Rechenschaft zu ziehen.
Es gab keine Ermittlungshilfe aus dem Ausland. Der neue Ermittlungsrichter arbeitet hoch ambitioniert, und dennoch - als er kürzlich zwei Anwälte, die auch dem Parlament angehören, zur Zeugenaussage vorgeladen hat, wurde ihre Immunität als Juristen zwar aufgehoben, aber ihre Immunität als Abgeordnete schützte sie weiterhin. Der Richter hat auch beantragt, die Immunität einiger mächtiger Funktionäre aufzuheben, die bei der Lagerung involviert waren. Er hat also Ermittlungsergebnisse, sogar Namen. Wenn diese Funktionäre ihre Vorladung aber einfach ignorieren und nicht vor Gericht erscheinen, hat das für sie keinerlei Folgen.
Sie müssen einer Vorladung nicht folgen?
Nein. Wer im Libanon hochrangige Politiker oder Beamte kennt, steht unter deren Schutz und hat nichts zu befürchten. Der neue Ermittlungsrichter macht seine Sache dennoch sehr gut, daher sorgen sich viele um ihn. Wir befürchten, dass er in absehbarer Zeit ersetzt oder umgebracht wird.
Vergangene Woche haben mehrere europäische Staaten finanzielle Hilfe angeboten, aber unter der Bedingung, dass der Libanon politische Reformen durchsetzt, und endlich eine neue Regierung gebildet wird. Sehen Sie Chancen, dass diese Forderungen einen Prozess in Gang bringen, der das politische System verändert?
Der ehemalige Premier Saad Hariri hat vor kurzem aufgegeben, nachdem er neun Monate lang versucht hatte, eine Regierung zu bilden. Präsident Aoun hatte keinen seiner Vorschläge für ein neues Kabinett akzeptiert. Libanons Präsident wird keinerlei Regierung dulden, in der sein Schwiegersohn nicht das Amt des Innenministers bekommt.
Und Aoun hat ausreichend Macht, seine Verwandtschaft ins Amt zu bringen?
Gemäß der Verfassung nicht, er hat kein Stimmrecht bei der Vergabe der Ministerämter. Aber politische Entscheidungen in diesem Land basieren nicht auf Gesetzen, sondern auf Einfluss und Verbindungen. Zu den europäischen Forderungen: Ich sehe nicht, dass die politische Klasse darauf reagieren wird. Die USA haben Sanktionen gegen einige Abgeordnete verhängt, unter anderem auch gegen den Schwiegersohn des Präsidenten. Trotzdem soll er Minister werden.
Dann gibt es wenig Hoffnung auf Veränderungen?
Ich sehe kaum Chancen, auch wenn ich hoffe, dass ich falsch liege. Mit finanzieller Hilfe aus Europa könnten die Menschen hier einmal durchatmen. Aber die politische Elite interessiert sich nicht für das Leid ihrer Landsleute. Darum werden sie auf die Bedingungen kaum eingehen. Egal, welche Situation gerade herrscht - sie versuchen, daran zu verdienen.
Am Jahrestag demonstrierten viele Menschen gegen diese Machenschaften - die Bilder erinnerten an die großen Proteste 2019. Könnte eine solche Bewegung aus dem heutigen Zorn entstehen?
Damals waren viele verschiedene Parteien und Gruppierungen beteiligt. Um eine solche Zahl Beteiligter wieder auf die Straße zu bringen, muss das jemand sehr gut organisieren. Derzeit sehe ich niemanden, der dazu in der Lage wäre - nicht in der wirtschaftlichen Situation gerade und mit wieder steigenden Covid-Zahlen. Am Trauertag sah Beirut viele Menschen auf der Straße, das stimmt, aber einen Tag später war es wieder ruhig.
Wie blicken Sie in die Zukunft?
Beirut, wo ich aufgewachsen bin und mit meiner Familie leben wollte, ist kein Zuhause mehr. Die Straßen, die selbst während des Krieges mit Israel so lebendig waren, sind verwaist und wirken düster. Man fühlt die Trauer der Menschen, die Wut und den Frust. Um ehrlich zu sein: Libanon ist kein Land zum Leben mehr, darum gehen so viele - allein sieben aus unserem Bekanntenkreis in den letzten zwei Wochen. Und auch wir sind soweit: Sobald sich die Chance ergibt auf einen Job im Ausland, sind wir hier weg.
Mit Khaled Amer sprach Frauke Niemeyer
Quelle: ntv.de