Politik

Interview mit Ex-Diplomat Mulack "Die alten Taliban sind im Ruhestand oder tot"

Eine Gruppe Taliban im Präsidentenpalast in Kabul.

Eine Gruppe Taliban im Präsidentenpalast in Kabul.

(Foto: picture alliance/dpa/AP)

Die Taliban von heute sind nicht dieselben, die in den 1990er-Jahren in Afghanistan herrschten, sagt der frühere deutsche Botschafter Gunter Mulack, der bereits damals mit Taliban verhandelte und heute Direktor des Deutschen Orient-Instituts ist. "Sie haben etwas, das es damals nicht gab: Umgang mit dem Westen."

ntv.de: Sie haben in den 1990er-Jahren als Diplomat Gespräche mit Taliban geführt. Wie kam es dazu?

Gunter Mulack ist Islamwissenschaftler und war Diplomat und Botschafter, zuletzt in Pakistan. Seit 2008 ist er Direktor des Deutschen Orient-Instituts in Berlin.

Gunter Mulack ist Islamwissenschaftler und war Diplomat und Botschafter, zuletzt in Pakistan. Seit 2008 ist er Direktor des Deutschen Orient-Instituts in Berlin.

(Foto: picture-alliance/ dpa/dpaweb)

Gunter Mulack: Zu meinem Zuständigkeitsbereich im Auswärtigen Amt gehörte damals unter anderem die Unterstützung beim Minenräumen. In Afghanistan lagen sehr viele Minen aus der Zeit der sowjetischen Besatzung in den 1980er-Jahren, und wir unterstützten eine afghanische NGO, die sich um die Räumung kümmerte. So kam ich nach Afghanistan. Um die entsprechenden Genehmigungen auszuhandeln, mussten wir auch in Taliban-Gebiete gehen, nach Kandahar, der Hauptstadt der Taliban. Dabei haben wir auch gleich ein paar kleinere Hilfsprojekte wieder angekurbelt, die es dort vor Beginn des Bürgerkriegs gegeben hatte.

Wie haben Sie die Taliban damals erlebt?

Die Gespräche verliefen erfolgreich. Wir erhielten die notwendigen Genehmigungen und waren alle überrascht, wie gut das ging. Bevor die Taliban in dieser Region die Kontrolle übernommen hatten, herrschte dort ein einziges Tohuwabohu, Überfälle waren an der Tagesordnung. Mit den Taliban wurde das schlagartig anders, es gab Sicherheit und eine gewisse Ruhe - wobei manche sagten, es sei eine Ruhe wie auf dem Zentralfriedhof von Chicago. Aber immerhin konnte man wieder unbesorgt durch die paschtunischen Gebiete und durch ganz Afghanistan fahren.

Als die Taliban dann gegen Ende der 1990er-Jahre die Macht in Afghanistan übernahmen, sperrten sie die Frauen aus dem öffentlichen Leben aus, verübten Massaker an den schiitischen Hazara, führten öffentliche Hinrichtungen durch und machten Frauen zu Zwangsprostituierten.

Die Taliban sind Paschtunen, in den paschtunischen Gebieten wurde ihre Herrschaft akzeptiert. Als sie in andere Regionen vordrangen, in denen Tadschiken, Hazara, Usbeken und andere Volksgruppen lebten, kam es zu Zusammenstößen. Diese wollten deren mittelalterliche Ideologie nicht hinnehmen. Das galt auch für die Gebildeten in Kabul, auch für sie waren die Taliban schrecklich. Und es war auch schwierig. Aber dennoch konnten Hilfsprojekte weiterlaufen, auch in Kabul, meist im medizinischen Sektor. Ich kann mich erinnern, dass Taliban mal in ein italienisches Krankenhaus eingedrungen sind und forderten, dass Männer und Frauen bei der Arbeit getrennt sind. Autos wurden kontrolliert, ob man Musikkassetten dabeihatte. Die Bänder wurden dann rausgezogen und in die Bäume an den Checkpoints gehängt. Frauen mussten Burkas tragen. Es gab öffentliche Erschießungen im Stadion, Frauen und Männer wurden wegen Ehebruchs hingerichtet. 2001 ist die Taliban-Herrschaft, Gottseidank, schnell zusammengebrochen.

Wird die Herrschaft der Taliban heute dieselbe sein wie früher?

Vieles hat sich verändert. Kabul hat sich verändert. Es ist nicht mehr eine vollkommen zerstörte Stadt mit nur noch 100.000 Einwohnern, sondern eine Millionenstadt, teilweise sehr modern, mit Shopping Malls, Restaurants und Kinos. Es wird eine Herausforderung für diese doch eher primitiven Gotteskrieger sein, ihre Herrschaft zu organisieren.

Die Taliban haben in den vergangenen Tagen versucht, ein Bild von sich zu verbreiten, dass moderner und moderater ist als das Image der unmenschlichen Steinzeit-Dschihadisten, das der Westen von ihnen hat. Gibt es die alten Taliban nicht mehr?

Ein Großteil der Taliban aus den 1990er-Jahren dürfte im Ruhestand oder tot sein. Aber der zentrale Unterschied dürfte darin liegen, dass die Taliban von heute etwas haben, das es damals so nicht gab: Umgang mit dem Westen. Seit zwei Jahren verhandeln die USA in Doha, der Hauptstadt von Katar, mit den Taliban, auch der deutsche Botschafter Markus Potzel spricht dort mittlerweile mit ihnen, um ein Einvernehmen zu erzielen, dass die Ortskräfte und ihre Familien sicher zum Flughafen kommen können. In Doha erleben die Taliban, wie eine moderne Stadt aussieht.

Bei einer Pressekonferenz am vergangenen Dienstag wurden auch Fragen von Journalistinnen beantwortet.

Im afghanischen Privatsender Tolo News lief sogar ein Interview mit einem Taliban-Vertreter, das von einer Journalistin geführt wurde. Sie trug dabei zwar ein Kopftuch. Aber früher wäre es undenkbar gewesen, dass sich ein Taliban mit einer Frau in ein Studio setzt. Sie haben ja auch jetzt alle Handys, machen Selfies oder filmen sich selbst. Auch das hätte es früher nicht gegeben.

Die Taliban wollen Frauen an der Regierung beteiligen. Gibt es Frauen in den Reihen der Taliban?

Ich habe da keine Frau getroffen, die waren alle weggesperrt. Die Ankündigung war wohl eher als Angebot an andere Ethnien zu verstehen. Man darf nicht vergessen: Einige Punkte aus der Ideologie der Taliban kommen aus der Tradition der Paschtunen. Ich habe bis heute paschtunische Freunde, mit denen ich lange eng zusammengearbeitet habe, deren Kinder ich habe groß werden sehen. Die haben Frauen, die studiert haben und gut Englisch sprechen. Trotzdem dauerte es Jahre, bis ich diese Frauen zu Gesicht bekommen habe. Es sind schon noch recht archaische Verhältnisse dort - auch unter Paschtunen, die in Häusern leben, die nach westlichen Maßstäben modern ausgestattet sind.

Taliban-Anführer Abdul Ghani Baradar ist erst vor ein paar Tagen aus dem Exil in Katar nach Afghanistan zurückgekehrt. Wie stark unterstützt Katar die Taliban?

Letztlich waren wir froh, dass es ein Land gab, das bereit war, die Taliban aufzunehmen, denn erst damit gab es die Möglichkeit, mit ihnen zu sprechen - und mit "wir" meine ich nicht nur Deutschland, sondern auch die EU und die USA. Katar hat sicherlich keine starken Einwände gegen eine islamische Herrschaft in Afghanistan. Aber gleichzeitig ist es das Land mit einem der größten US-Stützpunkte außerhalb der USA. Aus meiner Sicht wäre es übertrieben zu sagen, dass Katar die Taliban unterstützt.

Welche Rolle spielt Pakistan?

Das Siedlungsgebiet der Paschtunen erstreckt sich auf beiden Seiten der afghanisch-pakistanischen Grenze - der sogenannten Durand-Linie, die Ende des 19. Jahrhunderts willkürlich gezogen wurde. Diese Grenze durchschneidet Dörfer, manchmal sogar Häuser. Insofern hatten die Taliban immer Verbündete und Rückzugsräume in Pakistan. Die pakistanische Regierung sah sie zudem als Machtfaktor in ihrem Konflikt mit Indien. Der pakistanische Geheimdienst ISI hat die Taliban wesentlich unterstützt. Bei Anschlägen gegen die Bundeswehr vor zehn, fünfzehn Jahren waren auch Täter dabei, die einen pakistanischen Ausweis in der Tasche hatten. Die waren von den Taliban in den pakistanischen Madrassen, den Koranschulen, rekrutiert worden. Dennoch ist der Erfolg der Taliban aus pakistanischer Sicht zweischneidig, denn er stärkt auch die radikalen Gruppen in Pakistan.

In Dschalalabad und anderen afghanischen Städten ist es am Mittwoch zu offenen Protesten gekommen. Wie wird sich das entwickeln?

In Dschalalabad leben Paschtunen, aber auch Tadschiken. Der Stadt geht es eigentlich gut, sie profitiert von ihrer Nähe zum Khyberpass und damit vom Handel mit Pakistan. Viele der Einwohner dort wollten offenbar nicht zulassen, dass die afghanische Nationalflagge durch die weiße Fahne der Taliban ersetzt wird, und befürchten Einschränkungen für ihr Leben.

Welche Chancen hat die neue Nordallianz, die offenbar gerade im Pandschir-Tal gebildet wird?

Dort war der Widerstand schon zur Zeit der ersten Taliban-Herrschaft am stärksten. Ahmad Schah Massoud, eine legendäre Figur des Widerstands gegen die Sowjets, hatte sich nach der Eroberung Kabuls durch die Taliban 1996 ins Pandschir-Tal zurückgezogen. Massoud war Tadschike und Verteidigungsminister in der gestürzten Regierung, kurz vor den Anschlägen vom 11. September 2001 wurde er ermordet. Sein Grab ist fast ein Heiligtum. Im Pandschir-Tal versammeln sich jetzt wieder Menschen, die gegen die Taliban vorgehen wollen, auch der frühere Vizepräsident ist dort aufgetaucht, Massouds Sohn ist ebenfalls dort. In das Tal führt nur eine Straße. Da kann sich schon eine Widerstandsbewegung formieren. Bereits die Sowjets haben es nie geschafft, in das Pandschir-Tal einzudringen. Aber Widerstand gegen die Taliban bedeutet auch Bürgerkrieg. Ich bin sicher, dass die Mehrheit der Afghanen das nicht will. Die nehmen die Taliban notfalls in Kauf, wenn nur Ruhe und Frieden gesichert sind und die Taliban zu ihren Versprechungen stehen, was Frauen, Arbeit, Amnestie, Schulen und so weiter betrifft. Auch Russland und die USA werden keine der potenziellen Kriegsparteien unterstützen.

Für wie wahrscheinlich halten Sie es, dass eine größere Zahl an Flüchtlingen nach Europa kommt, wenn es im Land friedlich bleibt?

Wenn das Land zur Ruhe kommt und die Leute merken, dass sie einen normalen Lebensstil einigermaßen beibehalten können, dann wird das nicht passieren. Im Moment haben vor allem Regierungsangestellte, Militärs und pro-westliche Kräfte große Angst vor Racheakten. Im Einzelfall wird es das auch sicher geben, etwa bei Mitarbeitern der Geheimdienste - das sind wahrscheinlich Tausende -, weil auch Taliban von ihnen gefoltert wurden. Den normalen Regierungsmitarbeitern haben die Taliban mehrfach zugesichert, dass ihnen nichts geschieht. Ich sehe auch nicht, dass die westlichen Ortskräfte unmittelbar vom Tode bedroht sind. Bislang habe ich von keinem Fall gehört, dass jemand, der für die westlichen Alliierten gearbeitet hat, festgenommen, misshandelt oder getötet worden wäre. Ich würde daher dafür plädieren, das Drama nicht noch weiter zu dramatisieren.

Die Bundesregierung hat am Sonntag hektisch damit begonnen, Deutsche und afghanische Ortskräfte aus Kabul auszufliegen. Hätte das nicht viel früher passieren müssen?

Damit hätte man früher anfangen müssen, ja. Offenbar hat weder der Bundesnachrichtendienst noch sonst jemand damit gerechnet, dass der Vormarsch der Taliban so schnell verläuft. Aber natürlich hätte man sich trotzdem auf das Worst-Case-Szenario vorbereiten müssen, das gehört in allen Planungen dazu. Trotzdem möchte ich mein altes Haus, das Auswärtige Amt, verteidigen. Wir sind da gut aufgestellt, wir haben Krisenreaktionszentren und viel Landeskenntnisse. Nur: Wenn das Bundesinnenministerium nicht zulässt, dass die Ortskräfte ohne Visum eingeflogen werden, dann sind dem AA die Hände gebunden. Diese ganze Bürokratie und die Abstimmungsprozesse zwischen den Ministerien, das ist sehr schlecht gelaufen.

Mit Gunter Mulack sprach Hubertus Volmer

Quelle: ntv.de

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