
So war es 2015: Bundespolizisten begleiten ankommende Flüchtlinge an der Grenze von Österreich nach Bayern.
(Foto: picture alliance / dpa)
"2015 darf sich nicht wiederholen", mahnt Unionskanzlerkandidat Laschet, während sich am Kabuler Flughafen dramatische Szenen abspielen. Deutschland aber droht absehbar kein Massenandrang. Dafür hat auch die Bundesregierung in den vergangenen Jahren gesorgt.
Es gibt Jahreszahlen, die haben sich eingebrannt in das bundesrepublikanische Gedächtnis. Die düsteren, wie das Jahr des Mauerbaus, 1961, genauso wie die lichten Momente: 1990 etwa, das Jahr der Wiedervereinigung. Wie allerdings 2015 zu bewerten ist, als 890.000 Flüchtlinge nach Deutschland kamen, ist eine Frage, die noch immer das Land spaltet. Für die einen war es das Jahr, als Deutschland die Welt mit seiner Menschlichkeit und Großzügigkeit beeindruckte. Für die anderen war es ein Moment des politischen Totalversagens und des Kontrollverlusts. Beinahe zerrissen hätten diese Ereignisse die Union, die in den Jahren danach Millionen Wähler verlor und damit leben muss, dass sich mit der AfD eine Partei rechts von ihr etabliert hat. Viele CDU'ler haben dies Angela Merkel, ihrer Bundeskanzlerin und langjährigen Vorsitzenden, nie verziehen.
Armin Laschet weiß um diese Zerrissenheit, der des Landes im Allgemeinen und seiner Partei im Speziellen. Dass der Unionskanzlerkandidat dennoch am Montag, unter dem unmittelbaren Eindruck der dramatischen Ereignisse auf dem Flughafen von Kabul, von sich aus auf 2015 zu sprechen kam, war daher kein Versehen. "2015 darf sich nicht wiederholen", sagte er im Anschluss an eine CDU-Präsidiumssitzung. Der Satz war Teil einer längeren Ausführung, in der der Parteichef forderte, alles zu unternehmen zur Rettung deutscher Staatsangehöriger, afghanischer Ortskräfte und auch von Politikerinnen aus Afghanistan, die sich auf Deutschland verlassen hätten.
Eine Distanzierung und eine Warnung
Doch hängen blieb in der öffentlichen Wahrnehmung vor allem dieses eine Zitat, das vollständig lautete: "Die Europäische Union muss sich darauf vorbereiten, dass es Fluchtbewegungen in Richtung Europa geben könnte. Wir müssen diesmal rechtzeitig in der Region, in den Herkunftsländern humanitäre Hilfe leisten. 2015 darf sich nicht wiederholen."
Ähnlich und drastischer formulierte Warnungen gab es in den vergangenen Tagen von mehreren Unionsvertretern und natürlich vonseiten der AfD. Aber in Laschets Fall wiegt das Zitat schwerer: Der Kanzlerkandidat, der sich im Rennen um die Merkel-Nachfolge offensiv als Anhänger der Kanzlerin positioniert hatte, ging inmitten des Wahlkampfs mit seiner Warnung ein Stück weit auf Distanz zur Kanzlerin und vermittelte vor allem einen Eindruck: Erneut könnten Hunderttausende, gar Millionen Menschen an Deutschlands Grenzen stehen und Einlass fordern.
So etwas macht nicht nur auf harte Asylgegner Eindruck. Denn natürlich schwingt bei der Migrationspolitik immer die Frage mit: Wie viele Menschen kann Deutschland vernünftig versorgen und integrieren, ohne den gesellschaftlichen Frieden und die langfristige Stabilität des Landes zu gefährden? So berechtigt diese Frage ist, so übertrieben scheint Laschets Alarmismus. Denn was der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen am Montag nicht sagte: Die Lage in Deutschland, Europa und der Welt ist im Sommer 2021 eine andere als 2015.
Ein Jahr, das vieles verändert hat
Was genau war damals eigentlich passiert? Im vierten Jahr des Syrienkriegs hatte sich die Lage dort für die Zivilbevölkerung noch einmal drastisch verschlechtert: Die Terrormiliz Islamischer Staat breitete sich aus, während die gemäßigte Opposition gegen Diktator Baschar al-Assad in eine immer aussichtslosere Position rutschte. In der Folge stieg die Zahl der in die Nachbarstaaten geflohenen Syrer noch einmal sprunghaft auf vier Millionen Menschen, was vor allem Libanon und die Türkei zu spüren bekamen. Diese Länder sahen sich zunehmend überfordert bei der Versorgung der Flüchtlinge und wähnten sich vom Westen im Stich gelassen.
Immer mehr Syrer, aber auch andere Kriegsflüchtlinge aus Afghanistan, Eritrea, Somalia sowie vertriebene Palästinenser reisten über Griechenland in die EU an. Die Zahl der Geflüchteten stieg vor allem in Südosteuropa an. Dort, wo die Menschen als erstes in die EU einreisen, müssen sie nach dem Dublin-Abkommen auch ihren Asylantrag stellen. Doch in Ländern wie Bulgarien und Ungarn, wohin viele Menschen über Serbien kamen, waren die Geflüchteten weder willkommen, noch wollten sie dort bleiben.
Angesichts der humanitären Notlage inmitten der EU sowie an ihren Außengrenzen setzte die Bundesregierung kurzentschlossen und vorübergehend die Dublin-Regel einseitig aus. Zehntausende Menschen kamen binnen Tagen ins Land. In Wissenschaft und Politik ist bis heute umstritten, ob diese Geste und Bilder einer Flüchtlinge umarmenden Kanzlerin zusätzlich Menschen motiviert haben, sich aus ihren Heimatländern und Flüchtlingslagern nach Deutschland aufzumachen. Viele Forscher bezweifeln, dass solche sogenannten Pull-Faktoren den großen Unterschied machen.
Unstrittig dagegen ist, dass Merkels "Wir schaffen das"-Linie nicht von Dauer war: Schon 2015 begannen in Berlin, Brüssel und anderen europäischen Hauptstädten die diplomatischen Bauarbeiten an der Festung Europa - beschleunigt durch den Umstand, dass sich die EU-Partner nicht auf verbindliche Aufnahmequoten für alle Mitgliedstaaten einigen konnten, und zwar bis zum heutigen Tag nicht. Stattdessen schwang sich Deutschland zu einer der Triebkräfte hinter dem noch immer umstrittenen Türkei-Deal auf: Die autoritäre Regierung in Ankara erhält seither Milliardenbeträge zur Versorgung der syrischen Flüchtlinge im eigenen Land, statt diese zum Grenzübertritt nach Griechenland zu motivieren.
Die Festung steht
Parallel zu diesem politischen Prozess wurde die personelle und technische Aufrüstung der EU-Außengrenzen vorangetrieben. "Die Menschen kommen einfach nicht nach Europa herein", sagt Migrationsforscher Gerald Knaus zu ntv über "die extrem harte Politik an den EU-Außengrenzen". Immer öfter berichten Nichtregierungsorganisationen über illegale, gewaltsame Zurückweisungen, sogenannte Push backs - an der griechisch-türkischen Grenze, in Kroatien und an der Grenze zu Weißrussland. Das Schweigen der Bundesregierung hierzu muss als Billigung Berlins verstanden werden. Knaus geht jedenfalls davon aus, dass nur eine kleine Anzahl an Afghanen nach Europa fliehen wird .
Tatsächlich gilt der EU-Deal mit der Türkei aber nicht für Afghanen, die in der Türkei nicht willkommen sind, je mehr das Land ökonomisch darbt. Die Türkei hält sie zumindest nicht von der Weiterreise Richtung EU ab, auch wenn sie das Geschäft der Schlepper in der Ägäis grundsätzlich erschwert hat: Nachdem in den Jahren 2015 und 2016 rund 180.000 Afghanen nach Deutschland einreisten, kamen in den darauffolgenden vier Jahren nur noch etwa 18.000 hinzu. Allerdings verzeichnete das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BaMF) im ersten Halbjahr 2021 einen deutlichen Anstieg an Erstanträgen: 10.085 binnen sechs Monaten im Vergleich zu 9900 im Gesamtjahr 2020.
Ein Deal mit Iran und Türkei
Wie viele Menschen sich überhaupt noch auf den Weg machen können, nachdem die Taliban unerwartet schnell die Kontrolle über das Land übernommen und die Grenzen dicht gemacht haben, ist ungewiss. Hinzu kommt: Eine Flucht nach Europa kostet Geld, das viele Afghanen nach Jahren des Kriegs und der Wirtschaftsmisere nicht haben, anders als die Millionen Menschen aus dem zu Kriegsbeginn noch relativ wohlhabenden Syrien. Anderseits könnte die von den Vereinten Nationen befürchtete humanitäre Katastrophe in Afghanistan dennoch verzweifelte Menschen in Bewegung setzen - zuallererst in Richtung der großen Nachbarländer.
1,4 Millionen afghanische Flüchtlinge leben bereits in Pakistan, weitere 800.000 im Iran; zusammen rund 85 Prozent aller ins Ausland geflohenen Afghanen, wie das UN-Flüchtlingswerk UNHCR errechnet hat. Viele dieser Afghanen leben schon in zweiter oder dritter Generation in Flüchtlingslagern. Beide Länder hatten zuletzt die Einreise afghanischer Flüchtlinge erschwert, weil sie mit eigenen Wirtschaftsproblemen zu kämpfen haben. Sowohl die Taliban-Unterstützer in Islamabad als auch die Terror-Finanziers in Teheran wären, schlimmer noch als die Türkei 2016, denkbar schwierige Verhandlungspartner für die EU, wenn dort auf viele Jahre angelegte Flüchtlingscamps entstehen sollen, die der Westen finanziert. Das arme Usbekistan und das noch ärmere Tadschikistan fürchten eine Destabilisierung durch einwandernde Armut und einsickernde Islamisten. Die turkmenische Regierung ist wiederum das zentralasiatische Pendant zu Nordkorea: abgeschottet und unberechenbar.
Abmachungen mit einigen dieser Staaten aber wären die logische Konsequenz, wenn Laschet fordert, die afghanischen Flüchtlinge in der Region zu versorgen, damit sie sich gar nicht erst nach Europa aufmachen. Eine große Parallele zu 2015 gibt es in diesem Sommer also tatsächlich: Es ist eine schwierige Welt - auch, aber nicht vor allem für die Deutschen.
Quelle: ntv.de