Lage ähnlich wie im März 2022? "Die dunkelste Stunde der Ukraine fängt gerade erst an"
30.04.2024, 11:36 Uhr Artikel anhören
Kiews Truppen halten den Russen größtenteils stand. Doch Moskau versucht derzeit alles, um Durchbrüche zu erzielen.
(Foto: picture alliance / Anadolu)
Die ukrainischen Streitkräfte bekommen massive militärische Unterstützung aus den USA. Doch vieles aus dem Paket wird das Land erst später erreichen und hilft in der aktuell brisanten Situation nicht. Laut einem polnischen Experten ist die Lage so schlecht wie lange nicht mehr. Hoffnung gibt es nur wenig.
Der polnische Militärexperte und Direktor des unabhängigen Kriegsanalyse-Portals Rochan-Consulting, Konrad Muzyka, sieht die ukrainischen Streitkräfte aktuell in einer extrem prekären Lage. "Die Situation sieht sehr schlecht aus, und es ist keine Verbesserung in den kommenden Wochen zu erwarten", schreibt Muzyka in einer aktuellen Analyse. Seine bittere Prognose resultiert vor allem aus der personellen Übermacht der russischen Streitkräfte und der Vielzahl von Angriffen.
"Wir sind an einem Punkt angelangt, an dem die Lage an der Front so schlimm ist wie seit März 2022 nicht mehr. Die zahlenmäßige Überlegenheit der Russen nimmt weiter zu, und damit auch die Zahl der Angriffe. Die Ukraine hat ihre dunkelste Stunde noch nicht überstanden. Sie fängt gerade erst an", so Muzyka auf X. Der Mangel an Soldaten sei der Schlüsselfaktor, der in den nächsten drei bis vier Monaten den größten Einfluss auf die Entwicklung der Situation an der Front haben werde.
"In dieser Zeit werden neu mobilisierte Soldaten an der Front erscheinen, es besteht jedoch auch die Möglichkeit, dass ihre Ausbildungszeit im Falle eines russischen Durchbruchs oder eines Mangels an Reserven auf ein Minimum verkürzt wird", schreibt der Militärexperte. "In einem solchen Fall könnte sich die Ukraine in derselben Situation wie Russland im September 2022 befinden." Damals waren die Kreml-Truppen deutlich ins Hintertreffen geraten und mussten sich stellenweise weit zurückziehen.
Keine Parität durch US-Hilfen
Dass Lücken an der Front derzeit mit Einheiten wie der 47. Mechanisierten Brigade geschlossen werden, hält Muzyka für "schwer aufrechtzuerhalten in Anbetracht der personellen Verluste auf der ukrainischen Seite". Ähnlich äußerte sich auch Oberst Reiser vom österreichischen Heer im Interview mit ntv.de: "Diese Brigade ist bereits sehr abgenützt."
Das milliardenschwere Hilfspaket aus den USA, das für die Ukraine die letzte Rettung darstellt, bevor die Munitionslager komplett leer sind, trägt laut Muzyka dazu bei, "das Ungleichgewicht zu verringern" - mehr aber auch nicht. "Wir sprechen hier immer noch von einer Verringerung der Asymmetrie, nicht von einer Erreichung der Parität." Derzeit sollen bei Artilleriemunition laut Präsident Selenskyj auf einen Schuss der Ukrainer zehn der Russen kommen. Die tschechische Artillerie-Initiative für die Ukraine lahmt aktuell und wird in den nächsten Wochen wohl keine hohen Stückzahlen bereitstellen können.
"Artilleriefeuer ist auf ein Minimum beschränkt und muss oft von den Brigadekommandeuren autorisiert werden", schreibt Muzyka in seiner Analyse. Was aus den Vereinigten Staaten komme, werde den Kurs des Krieges nicht ändern, sondern nur verzögern. Eine Einschätzung, die viele andere Militärexperten teilen. Sie fordern mit Blick auf das Jahr 2025 weitere Hilfen.
In den letzten Wochen haben die ukrainischen Streitkräfte ihre Verteidigungsanlagen stellenweise massiv ausgebaut, um die Angriffe der Russen abzuwehren. Doch es soll diverse größere Schwachstellen geben. "Kiew musste sich mit dem Dilemma der Priorisierung von Gebieten auseinandersetzen", so Muzyka. Die Analyse öffentlich zugänglicher Satellitenbilder zeige, dass es in Gegenden, in denen Russland angreift, wie in Richtung Pokrowsk und Konstantinowka, "keine sichtbaren befestigten Linien" gebe. "Man kann nur hoffen, dass im Hinterland des Gebiets Donezk zusätzliche Befestigungen errichtet werden."
Was macht noch Hoffnung?
Angesichts des düsteren Bildes, das nicht nur Muzyka zeichnet, sondern auch andere führende Experten, stellt sich die Frage, was Kiews Truppen in den nächsten Wochen noch Hoffnung machen kann. "Im Moment warten eigentlich alle auf den ATACMS-Effekt", sagt Oberst Reisner über die bereits gelieferten US-Raketen mit größerer Reichweite. Doch bislang gebe es diesen nicht. Gemeint ist ein Effekt wie zu Zeiten der Lieferung von HIMARS-Mehrfachraketenwerfern, als die Russen mehrere Wochen brauchten, um sich auf die neue Waffe einzustellen.
Sicherheitsexperte Gustav Gressel fand nach einem Besuch in der Ukraine im NDR-Podcast "Streitkräfte & Strategien" kürzlich nur wenige Worte, als die Frage nach etwas Positivem aufkam. "Wenn es einen Hoffnungsschimmer gibt, dann ist es die Kreativität der Ukrainer, Dinge zu improvisieren, die ihnen weiterhelfen", so Gressel.
Quelle: ntv.de