Politik

Reisners Blick auf die Front "Die Frontfeuerwehr der Ukraine ist abgenutzt"

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Im Moskauer "Park des Sieges" wird ein US-Panzer vom Typ Bradley ausgestellt, ein Abrams wird wohl noch dazukommen. "Das ist die für Russland typische Anknüpfung an das Narrativ vom Großen Vaterländischen Krieg."

Im Moskauer "Park des Sieges" wird ein US-Panzer vom Typ Bradley ausgestellt, ein Abrams wird wohl noch dazukommen. "Das ist die für Russland typische Anknüpfung an das Narrativ vom Großen Vaterländischen Krieg."

(Foto: picture alliance/dpa/TASS)

Der Einbruch der Russen bei Otscheretyne in Donezk hat das Potenzial, "sich zu einem größeren Durchbruch auszuwachsen", sagt Markus Reisner in seinem Blick auf die Front. Im schlimmsten Fall drohe der Ukraine ein lokaler Zusammenbruch der Front. Reisner sieht die Ukraine derzeit mit fünf Problemen konfrontiert. "Im Moment warten eigentlich alle auf den ATACMS-Effekt", sagt der Ukraine-Experte des österreichischen Bundesheeres. "Bislang gab es ihn nicht."

Markus Reisner ist Oberst des österreichischen Bundesheeres und analysiert jeden Montag bei ntv.de die Kriegslage in der Ukraine.

Markus Reisner ist Oberst des österreichischen Bundesheeres und analysiert jeden Montag bei ntv.de die Kriegslage in der Ukraine.

(Foto: ntv.de)

ntv.de: Ist die Lage an der Front wirklich so dynamisch, wie der ukrainische Armeechef Olexander Syrskyj am Sonntag sagte? "Die Lage ändert sich dynamisch - in einigen Gebieten hat der Feind taktische Erfolge erzielt, in anderen Gebieten konnten wir die taktische Position unserer Truppen verbessern", sagte er. Das klingt, als gäbe es mal für die eine Seite einen Erfolg, mal für die andere.

Markus Reisner: Im Militärsprech ist "Dynamik" ein Synonym dafür, dass die Lage ernst ist und sich schnell in eine unerwünschte Richtung entwickeln kann. Die Situation an der Front in der Ukraine entwickelt sich tatsächlich sehr dynamisch. In der vergangenen Woche kam es zu einem möglicherweise größeren Einbruch der Russen in die ukrainischen Verzögerungs- beziehungsweise Verteidigungsstellungen in der Nähe der Ortschaft Otscheretyne. Die Situation dort hat das Potenzial, sich zu einem größeren Durchbruch auszuwachsen. Im schlimmsten Fall droht ein lokaler Zusammenbruch der ukrainischen Front. Hier drängt sich ein bisschen ein Vergleich zu Popasna im Mai 2022 auf.

Popasna wurde damals von den Russen erobert.

Die Eroberung von Popasna und der somit erzielte Durchbruch durch die erste Verteidigungslinie der Ukrainer führte zur Kesselschlacht von Lyssytschansk und Sjewjerodonezk, die die Russen für sich entschieden haben. Ein Jahr später, ebenfalls im Mai, fand der Durchbruch bei Soledar und Bachmut statt. Bemerkenswert finde ich, dass es diese Zuspitzungen immer im Mai gibt. Offenbar wird von der politischen Führung in Moskau ein enormer Druck ausgeübt auf die militärische Führung: Am 9. Mai feiert Russland den Tag des Sieges, also den Sieg der Sowjetunion über Nazi-Deutschland.

Was ist der Grund für den Einbruch bei Otscheretyne? Der Mangel an Munition?

Nicht nur. Aus meiner Sicht gibt es mehrere Gründe. Erstens ist offensichtlich, dass die Ukraine einen Mangel an kampfkräftigen operativen Reserven hat. Wir haben gesehen, dass die 47. Mechanisierte Brigade rasch an die Front bei Otscheretyne herangeführt wurde. Diese Brigade ist eine Art Frontfeuerwehr, die seit Beginn ihrer Aufstellung vor zwei Jahren im Einsatz ist. Sie wurde zu Beginn der später gescheiterten ukrainischen Offensive im Süden, bei Tokmak, eingesetzt. Von dort wurde sie nach Awdijiwka verlegt und ist jetzt nordwestlich davon im Einsatz. Diese Brigade ist aber bereits sehr abgenutzt - das ist eine der Brigaden, die mit Leopard-Kampfpanzern ausgestattet wurden. Nach einigen Verlusten erhielt zumindest eine Kompanie dieser Brigade stattdessen Abrams-Panzer. Diese Panzerkompanie ist mittlerweile aber auch schwer getroffen - sie hat über 50 Prozent Ausfälle erlitten. Und gerade erst gab es Berichte, dass auch diese Abrams nun zur Gänze zurückgezogen wurden. In jedem Fall war die Brigade nicht kampfkräftig genug, den russischen Angriff abzuwehren. Das zeigt, dass die Ukraine Probleme hat, kampfkräftige Reserven zusammenzustellen.

Die Verfügbarkeit von Artilleriemunition ist das zweite Dilemma. Bei Awdijiwka und Bachmut verfügen die Russen über eine Artillerieüberlegenheit von zehn zu eins gegenüber den Ukrainern. Die Ukrainer können die Angriffe der Russen zwar mit ihren First-Person-View-Drohnen verlangsamen. Aber diese Drohnen haben nicht die Reichweite, die man braucht, um auf die russische Artillerie einzuwirken. Daraus ergibt sich das dritte Dilemma.

Die mangelnde Flugabwehr der ukrainischen Armee?

Mit ihrer Artillerie und dem Einsatz von Gleitbomben mit Gewichtsklassen bis zu 1500 Kilogramm bomben die Russen sich faktisch den Weg frei. Um den Gleitbomben etwas entgegensetzen zu können, bräuchte die Ukraine mehr Fliegerabwehrsysteme mittlerer und hoher Reichweite. Derzeit verfügt die russische Luftwaffe über eine lokale Luftüberlegenheit und kann die angreifenden Bodentruppen so unterstützen, dass die ukrainischen Stellungen faktisch sturmreif gebombt werden.

Etwas, für das den ukrainischen Truppen das Material fehlt.

Das ist Dilemma Nummer vier: das Unvermögen der ukrainischen Streitkräfte, auf operativer Ebene die russischen Versorgungslinien, Logistikknotenpunkte und Gefechtsstände anzugreifen und zu unterbrechen. Der Ukraine fehlen die nötigen Boden-Boden-Systeme oder Luft-Boden-Systeme mittlerer Reichweite, um hinter die Frontlinien zu wirken - Boden-Boden, das wären die ATACMS, über die wir seit Wochen sprechen und die die Ukraine bislang nicht in signifikanter Menge zur Verfügung hatte. Und Luft-Boden wären Waffensysteme, die mit den F-16-Kampfjets mitgeliefert werden könnten.

Die USA haben am vergangenen Mittwoch mitgeteilt, dass sie ATACMS mit großer Reichweite bereits geliefert hätten.

Im Moment warten eigentlich alle auf den ATACMS-Effekt, über den wir vor einer Woche bereits sprachen. Bislang gab es ihn nicht.

Das fünfte Dilemma der Ukraine ist, dass die Qualität ihrer zweiten und dritten Verteidigungslinie nicht der ihrer ersten Linie entspricht. Die Festungen der ersten Linie wurden zwischen 2014 und 2022 angelegt, aber die sind mittlerweile alle mehr oder weniger durchbrochen. Westlich davon haben die Ukrainer oft in den letzten beiden Jahren zusätzliche Verzögerungsstellungen eingerichtet, um Zeit für den Ausbau zu gewinnen. Aber solche Stellungen oder gar festungsartige Stützpunkte im Krieg auszubauen, ist ungleich schwerer. Diese Defizite machen sich jetzt sehr deutlich bemerkbar, vor allem nordwestlich von Awdijiwka. Mit Blick auf Otscheretyne sprechen die Russen bereits von der Blume, die zu blühen begonnen habe.

Eine Blume?

So beschreiben russische Militärblogger und Armeeangehörige einen erfolgreichen Durchbruch. Die sich öffnenden Blumenblätter stehen für die Vorstöße der russischen Einheiten.

Wie kann die Ukraine reagieren?

General Syrskyj muss jetzt rasch und entschlossen handeln. Er muss weitere Reserven zumindest an die Region hinter der Einbruchstelle heranführen. Diese Kräfte müssen entlang bereits bestehender Verteidigungsstellungen oder zumindest entlang eines günstigen Geländeabschnitts eingesetzt werden, also an Flüssen, Kanälen oder Eisenbahndämmen. Und das eintreffende Material muss so schnell wie möglich eingesetzt werden. Das bedeutet möglicherweise, vorerst auf Angriffe mit ATACMS auf die Krim zu verzichten und sich stattdessen auf die russische Logistik und Führung hinter der Front bei Awdijiwka und Bachmut zu konzentrieren. Denn man kann davon ausgehen, dass die Russen die Aggressivität ihrer Angriffe bis zum 9. Mai noch steigern werden.

Eine ukrainische Militärsprecherin hat gestern dementiert, dass die Abrams-Panzer abgezogen wurden. Können Sie sagen, ob es eine Verlegung der Panzer gab?

Da sowohl die Russen als auch die Ukrainer beständig zahllose Drohnenvideos veröffentlichen, haben wir einen recht guten Überblick darüber, was an der Front geschieht. Und seit zehn Tagen gibt es kein Video mehr, dass einen Einsatz von Abrams durch die 47. Brigade zeigt. Das legt den Verdacht nahe, dass sie von der Front zurückgezogen wurden, um zu verhindern, dass sie von russischen First-Person-View-Drohnen zerstört oder erbeutet werden. Tatsächlich gab es zwei oder drei russische Videos, auf denen zu sehen ist, wie russische Bergepanzer einen Abrams abschleppen. Der ist vermutlich bereits auf dem Weg nach Moskau, wo in Vorbereitung des 9. Mai eine Propaganda-Ausstellung vorbereitet wird, auf der westliches Kriegsgerät zur Schau gestellt wird - unter anderem auch ein Leopard 2 A6.

Die Ausstellung trägt den Titel "Geschichte wiederholt sich. Unser Sieg ist unausweichlich".

Hinter den Panzern sieht man die Fahnen, auf denen "Pobeda!" steht, also "Sieg!". Das ist die für Russland typische Anknüpfung an das Narrativ vom Großen Vaterländischen Krieg. In der Ausstellung steht auch ein deutscher Marder II. Das war ein leichter Panzerjäger, den die deutsche Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg eingesetzt hat. Der wird einem heutigen Marder-Schützenpanzer gegenübergestellt, der in der Ukraine erbeutet wurde. Es würde mich nicht wundern, wenn bald Bilder auftauchen von einem alten deutschen Tiger-Panzer, den man aus dem Moskauer Panzermuseum Kubinka holt und neben den Leopard stellt.

Funktioniert diese Art der Propaganda, die Gleichsetzung des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine?

Den Russen wird erzählt, dass Zehntausende von westlichen Söldnern in der Ukraine im Einsatz wären - Söldner aus Ländern, die aus russischer Sicht quasi Erbfeinde sind, also aus etwa aus Polen und aus Deutschland. Wie gut diese Propaganda verfängt, sehen wir daran, dass es keinen Aufstand in der Bevölkerung gibt. Es ist kein Lenin zu sehen, der einen Waffenstillstand fordert und das Volk aufwiegelt. Es gibt auch innerhalb der politischen Führung keine erkennbare Opposition. Ein großer Teil der russischen Bevölkerung lebt nicht in Moskau oder Sankt Petersburg, sondern in Dörfern und Städten, deren Namen man im Westen kaum kennt. Vor allem dort funktioniert die Propaganda sehr gut. Und dann liefert die Ukraine dieser Propaganda auch noch Vorlagen: Auf ukrainischen Panzern sieht man immer wieder sogenannte Balkenkreuze, mit der deutsche Fahrzeuge im Zweiten Weltkrieg gekennzeichnet waren.

Warum tragen ukrainische Panzer solche Kreuze?

Es gibt nationalistische Elemente in der ukrainischen Armee. Man sieht ja auch immer wieder das Schwarz-Rot der Bandera-Bewegung, in der das Asow-Regiment seine Wurzeln hat, das 2022 bei der Verteidigung von Mariupol eine wichtige Rolle gespielt hat. Als dort ukrainische Soldaten mit Nazi-Tätowierungen aus den Kellern geholt wurden, war das für die Russen perfektes Propaganda-Material - auch wenn man dieselben Tätowierungen bei der russischen Armee sieht.

Der Militärökonom Marcus Keupp sagte vor ein paar Tagen der "Kölnischen Rundschau", Russland habe den Krieg strategisch verloren. Spätestens im Herbst 2023 sei klar gewesen, dass die Produktionsrate der Russen mit der Abnutzungsrate nicht standhalten könne. Wie sehen Sie das?

Es steht mir nicht zu, Kommentare über andere abzugeben. Ich will allerdings davor warnen, auf eine Wendung im Krieg zu hoffen, von der wir bislang nichts sehen. Man muss die Situation ernst nehmen, man muss sich auf den Extremfall vorbereiten. Der deutsche Verteidigungsminister Pistorius hat kürzlich darauf hingewiesen, dass Russland offensichtlich mehr Material produziert, als es unmittelbar für den Krieg braucht. Was ist der Sinn dieser Überproduktion? Wird hier bereits der nächste Krieg vorbereitet? Wenn man solche Möglichkeiten nicht bedenkt, kann die Überraschung böse sein. Wir können nicht sagen, wir hätten es nicht gewusst.

Mit Markus Reisner sprach Hubertus Volmer

Quelle: ntv.de

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