Historische US-Flüchtlingskrise Die neue Migranten-Maßnahme: Lasst sie arbeiten
21.09.2023, 19:43 Uhr Artikel anhören
Neu angekommene Migranten warten im August vor dem Roosevelt Hotel in New York City.
(Foto: REUTERS)
So viele Migranten wie nie werden an der US-Südgrenze aufgegriffen. Die Folgen spürt auch der Norden des Landes, etwa New York City. Es werde die Stadt "zerstören", sagt etwa der dortige Bürgermeister. Nun reagiert die US-Regierung.
Anfang des Monats äußert sich Eric Adams apokalyptisch. "Ich sehe kein Ende. Diese Angelegenheit wird New York City zerstören." Der Bürgermeister sieht seine Stadt weit über ihrer Belastungsgrenze. Seit Frühjahr 2022 sind 110.000 Migranten nach New York gelangt, eine Rekordzahl. Davon sind etwa 37.000 geflüchtete Venezolaner, mit Abstand die größte Gruppe gemäß Staatsangehörigkeit. Etwa 60.000 Menschen sind derzeit in Notunterkünften unterbracht und werden dort auch mit Essen versorgt. Neben Venezuela kommen die meisten anderen ebenfalls aus lateinamerikanischen Ländern.
New York mit seinen 8,5 Millionen Einwohnern ist nicht die einzige Stadt, die Rekordzahlen verzeichnet. Die Vereinigten Staaten erleben eine Migrationsbewegung wie noch nie. Im vergangenen Jahr wurden fast 2,4 Millionen Menschen an der südlichen US-Grenze in Richtung Norden aufgegriffen. Aktuell sieht es nach einem erneuten Rekord für 2023 aus. Sie kommen wegen wirtschaftlicher Folgen der Pandemie, Klimawandel in Zentralamerika, der Lebensgrundlagen zerstört, sowie autoritärer Regime.
In anderen Städten kommen ständig Migranten an und werden untergebracht, etwa in Denver, Philadelphia, Chicago oder Los Angeles. Auch im Staat Massachusetts besteht das Recht auf Unterbringung, aber nur für Familien. Auch dort hat sich die Zahl der Migranten deutlich vergrößert. Was mit den Migranten geschieht, nachdem sie aufgegriffen wurden, dafür gibt es auf US-Ebene wenig Koordination zwischen Bundesstaaten.
Die Sicherheit an der Südgrenze ist wie Sprengstoff im Wahlkampf. Die Demokraten versuchen, die Situation in den Griff zu bekommen und zugleich im Hinblick auf kommendes Jahr als die humanere politische Option zu agieren. Adams' Äußerungen nannten zwei Hilfsorganisationen "unproduktive Angstmacherei", die man von Politikern am rechten Rand erwarten würde.
Die Republikaner versuchen, dies zu nutzen und zeigen eine eisenharte Faust in Richtung illegaler Einwanderer. Die Behörden im republikanisch regierten Grenzbundesstaat Texas etwa laden Migranten ohne Absprachen in Busse und verschicken sie in demokratisch regierte Orte, unter anderem nach New York City. Der republikanische Präsidentschaftsbewerber Ron DeSantis ließ venezolanische Migranten in Chartermaschinen ins demokratisch regierte Massachusetts ausfliegen.
Hohes Haushaltsdefizit
In New York City gilt seit etwa 1981 ein sogenanntes Recht auf Unterbringung ("right to shelter") - wer will, kann es in Anspruch nehmen. Wegen der aktuellen Flüchtlingssituation hat die von den Demokraten regierte Stadt mehr als 200 neue Unterkünfte eröffnet, unter anderem in einem Kreuzfahrtschiff-Terminal, einem Hangar, einer früheren Psychiatrie, sogar auf Fußballfeldern. Mitten in Manhattan liegt das Roosevelt Hotel, dort sind 850 Familien untergebracht. Manchmal entzünden sich davor Proteste. Auch gegen die Neueröffnung von Unterkünften kam es zu Demonstrationen.
Die Stadt bezahlt für all das. Die künftigen Kosten werden auf zwölf Milliarden Dollar für drei Jahre geschätzt. Die deshalb nötigen Kürzungen würden sich "auf jeden Dienst in dieser Stadt" auswirken, sagt Adams. Im kommenden Jahr rechnet New York City mit einem Gesamthaushalt von 107 Milliarden Dollar und einem Defizit von 13,8 Milliarden Dollar. 6,1 Milliarden davon werden für Migrantenversorgung ausgegeben. "Außergewöhnlich hoch", urteilt eine unabhängige Haushaltskommission. Der Staat müsse Geld zuschießen, der Bundesstaat ebenfalls mehr tun.
Mehrfach hat Adams in Washington um Hilfe gebeten. Nun hat die US-Regierung angekündigt, fast einer halben Million Venezolanern im ganzen Land temporären Schutz zu gewähren. Wer vor dem 31. Juli ins Land gekommen ist, kann in den kommenden 18 Monaten nicht abgeschoben werden und darf eine Arbeitserlaubnis beantragen. Es sei auf absehbare Zeit nicht möglich, sie in ihr Land zurückzuschicken. Seit dem Ende der Asylsperre im Mai, die wegen der Corona-Pandemie eingeführt worden war, hat die US-Einwanderungsbehörde 250.000 Menschen abgeschoben.
Die Situation in Venezuela ist äußerst prekär. Nach desaströsen sozialistischen Jahren hat das Regime um Präsident Nicolás Maduro seinen Griff um die venezolanische Wirtschaft etwas gelockert, aber die Armut ist allgegenwärtig und Regierungsgegner müssen politische Verfolgung fürchten. Weiterhin fliehen die Menschen deshalb aus dem Land. Ein Viertel der Gesamtbevölkerung, als rund 7,7 Millionen Menschen, haben es laut der UN-Flüchtlingsorganisation bislang verlassen. Mehr als 6,5 Millionen von ihnen zunächst in Richtung anderer lateinamerikanischer Länder.
Dort bleiben sie nicht unbedingt. Allein in diesem Jahr erwarten die Behörden in Panama 200.000 Venezolaner, die sich auf den Weg durch den gefährlichen Tapón del Daríén zwischen Süd- und Zentralamerika in Richtung USA machen; von insgesamt 400.000. Der dichte Dschungel war früher eine natürliche interkontinentale Barriere, dominiert von Guerilleros und Drogenschmuggel. Doch seit Ende der Pandemie nehmen so viele Flüchtende wie nie die tagelange Route durch das unwegsame Gelände auf sich.
Verwandte Diskussion in Deutschland
Die Forderung nach den Arbeitserlaubnissen kam nicht nur aus New York City, sondern auch von anderen Bürgermeistern im Land, deren Städte immer größere Flüchtlingszahlen verzeichnen. Die Migranten sollen sich so im besten Fall selbst versorgen können und die Kosten für die Stadt drücken. Nach einem Asylantrag in den USA dürfen Flüchtende sonst ein halbes Jahr lang nicht arbeiten, solche ohne Antrag ohnehin nicht auf legale Weise.
Eine verwandte Diskussion findet in Deutschland statt. Es fehlen Hunderttausende Fachkräfte, zugleich gibt es Asylbewerber oder Geduldete, die beruflich qualifiziert sind, aber nicht oder nur unter Auflagen arbeiten dürfen. Aus mehreren Bundesländern kam deshalb der Wunsch, dass Asylbewerber ihren Antrag zurückziehen oder nach Ablehnung stattdessen eine Arbeitserlaubnis beantragen können sollen.
In den USA ist die Sicherheit der Südgrenze und der Umgang mit Migranten eine politische Achillesferse, insbesondere für die Demokraten. Für US-Amerikaner ist die dortige Situation laut Umfragen eines der wichtigsten Wahlkampfthemen. Mit den Arbeitserlaubnissen lindern die Demokraten akut einen kleinen Teil des Problems im eigenen Land. Aber nicht dessen Ursachen: Klimawandel und Armut in der Region.
Quelle: ntv.de