Politik

Sechs Millionen ermordete Juden "Die runde Zahl" des Holocaust

Am vergangenen Donnerstag wurde weltweit der Holocaust-Gedenktag begangen, der Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz durch die Rote Armee.

Am vergangenen Donnerstag wurde weltweit der Holocaust-Gedenktag begangen, der Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz durch die Rote Armee.

(Foto: imago images/NurPhoto)

Wer sich auch nur oberflächlich mit der Geschichte des Nationalsozialismus beschäftigt hat, kennt diese Zahl: Sechs Millionen Juden wurden von den Deutschen im Holocaust ermordet. Der israelische Filmemacher David Fisher hat darüber eine Dokumentation gemacht, "The Round Number".

Der Sohn von Holocaust-Überlebenden, der im Schatten des Traumas und der Trauer seiner Eltern aufwuchs, versucht mit dem Film eine historische Untersuchung aus der Ich-Perspektive. Mit seiner Dokumentation hat Fisher eine Kontroverse ausgelöst, da der Film an der "runden Zahl" von sechs Millionen Toten rüttelt. Fisher fragt, warum sie gewissermaßen zum Kanon wurde.

Den Holocaust leugnet Fisher natürlich nicht. Dennoch führte "The Round Number" in Israel zu sehr unterschiedlichen Reaktionen. Viele sahen darin einen zum Nachdenken anregenden Streifen, der auf seine bescheidene Art provozierend wirke. Historiker kritisierten allerdings, dass Fisher Erkenntnisse der Forschung bewusst ignoriert habe.

Zu den Kritikerinnen gehört die israelische Historikerin Dina Porat. Die 78-Jährige lehrte am Institut für Jüdische Geschichte der Universität Tel Aviv und ist Chefhistorikerin von Yad Vashem, der bedeutendsten Gedenkstätte des Holocaust. Fisher hat sie für seine Dokumentation ebenfalls befragt. Das Ergebnis überzeugt Porat nicht. Sie fürchtet, dass der Film von Geschichtsrevisionisten missbraucht werden könnte.

ntv.de: Frau Professor Porat, der Holocaust ist eines der meist erforschten Ereignisse in der Geschichte und wird auch weiterhin von Wissenschaftlern weltweit untersucht. Warum wird immer wieder einiges aus diesem Völkermord hinterfragt?

Dina Porat ist die Chefhistorikerin der Jerusalemer Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem.

Dina Porat ist die Chefhistorikerin der Jerusalemer Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem.

(Foto: privat)

Dina Porat: Es ist einer der am besten recherchierten Genozide, da er in seiner Form einzigartig ist. Menschen wollen verstehen, warum so etwas in Europa passieren konnte und welche Logik dahinter steckte. Warum die lokale Bevölkerung in den einzelnen Staaten mit Deutschland kollaborierte und weshalb die Nazis die Juden als größte Gefahr auf Erden sahen zu einer Zeit, wo diese kleine Minderheit gleichzeitig am Tiefpunkt ihrer Geschichte war. Doch auch nach vielen Jahren der Forschung durch Historiker, Soziologen und andere - und selbst nach Öffnung der Archive in der ehemaligen Sowjetunion vor dreißig Jahren - gibt es keine richtigen Antworten darauf.

Der israelische Filmemacher David Fisher hat mit seinem Dokumentarfilm "The Round Number" versucht, der Zahl von sechs Millionen ermordeten Juden auf den Grund zu gehen. Darf er diese Zahl hinterfragen?

Natürlich, das kann ihm keiner verbieten. Jeder Filmproduzent, Autor oder Forscher kann recherchieren, was er möchte.

Der industrielle Mord am jüdischen Volk durch Nazideutschland und seine Komplizen ist eine Tatsache. Warum ist diese "runde Zahl" so wichtig?

Das müssten Sie David Fisher fragen. Er beschloss, die Opferzahl zu untersuchen. Ich gehörte zu den Historikern, die er dazu interviewte, und wir alle gaben ihm plausible Antworten. Mehrmals wurde ihm dabei erklärt, dass - basierend auf jahrelangen seriösen Forschungen anerkannter Wissenschaftler - knapp sechs Millionen Juden in der Shoah ermordet wurden, doch er hat die Fakten aus seinem Film rausgeschnitten. Das ist nicht in Ordnung.

Wie meinen Sie das?

Ich sagte ihm, dass er die fast schon sakrale Zahl nicht hinterfragen sollte, da Gedenkstätten wie Yad Vashem viel dazu recherchiert haben. So verfasste in den 1980er-Jahren der Shoah-Überlebende und Historiker Israel Gutman zusammen mit zahlreichen anderen Forschern eine ausführliche Enzyklopädie des Holocaust. In den 2000er-Jahren - nach Eröffnung des jüdischen Pavillons in Auschwitz - wurde diese Studie noch einmal überarbeitet. Ich habe David Fisher wiederholt erklärt, dass wir in beiden Fällen auf mehr als 5.860.000 Opfer kamen. Doch er hat das nicht in den Film eingebaut.

Warum nicht?

Das weiß ich nicht. Doch wenn er nachforschen und die Wahrheit herausfinden wollte, dann sollte er alle Fakten bringen. Er hat sogar Historiker interviewt, die auf mehr als sechs Millionen Opfer kamen. Auch dies ließ er weg.

Laut Professor Omer Bartov, einem der führenden Forscher für Genozide, ist eines der Merkmale des Völkermords, dass man nie alle Opfer kennen wird.

Natürlich hat Bartov damit Recht. Die Täter des Genozids interessierten sich nicht für die Opfer, denn sie wollten sie vernichten. Aber er beschäftigte sich nicht mit der Frage, wieso zahlreiche Überlebende schon vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs von sechs Millionen jüdischen Opfern sprachen.

Wie kam es dazu?

Im Dezember 1944 traf Rozka Korczak - die mit der Partisanengruppe um Abba Kovner gegen die Deutschen gekämpft hatte - in Palästina ein. Sie berichtete davon, was ihr zunächst niemand glaubte. In Europa hatte sie Überlebende getroffen, die über diese Zahl sprachen, noch bevor es eine Möglichkeit gab, dies zu überprüfen.

Woher hatten die Überlebenden ihre Informationen?

Bereits in den 1930er-Jahren äußerten jüdische Führer die Angst und Besorgnis, dass etwa sechs Millionen europäische Juden in Gefahr seien. Sie dachten dabei allerdings nicht an Auschwitz und Vernichtung, eher an Vertreibung und Entrechtung.

Zu dieser Zeit schätzten Juden selbst, dass sechs Millionen Menschen ihres Volkes in Europa lebten? Auf der Wannsee-Konferenz war die Rede von 11 Millionen.

Hier muss man die drei Millionen Juden aus der Sowjetunion noch hinzufügen. Die Zahlen der Wannseekonferenz stimmten nicht, weil damals kein Land eine genaue Volkszählung seiner Juden führte. Die Nazis fügten aufgrund der Nürnberger Gesetze zwei weitere Millionen hinzu.

Als der Krieg endete, waren sich die Überlebenden sicher, dass der Kern des europäischen Judentums - die Hälfte davon aus Polen - ausgelöscht war. Bereits 1947 startete man einen Vergleich und fragte, wie viele Juden es vorher und nachher gab. Der nach Palästina ausgewanderte Partisanenführer Abba Kovner arbeitete übrigens schon 1945 an einem Racheplan.

Darüber haben Sie erst gerade ein Buch mit dem Titel "Die Rache ist Mein allein" veröffentlicht.

Darin beschreibe ich, wie sich die Organisation Nakam (Hebräisch für "Rache") an der Nation rächen wollte, die sie für die Ermordung von sechs Millionen Juden verantwortlich machte. Das Buch diente als Vorlage für den fiktiven Kinofilm "Plan A".

Ihr Kollege Yehuda Bauer sagt in Fishers Dokumentarfilm, die Zahl sechs Millionen sei eine Erfindung der Nazis. Was ist da dran?

Das ist nur die Hälfte seiner Antwort, die David Fisher verwendete. Yehuda Bauer erzählte ihm, dass Adolf Eichmann seinem Assistenten Wilhelm Höttl bereits im August 1944 berichtete, dass vier Millionen Juden in den Vernichtungslagern und zwei Millionen auf andere Art getötet worden seien. Diese Beweise kamen aus nationalsozialistischen Quellen und wurden auch in den Nürnberger Prozessen zitiert.

Wie viele Millionen Juden hat Yad Vashem in seiner Datenbank?

Die Gedenkstätte hat bis jetzt über 4.800.000 jüdische Opfer recherchiert, deren Namen und Daten registriert sind. Es wird nach einer weiteren Million geforscht, doch Historiker sind sich natürlich bewusst, dass es sehr schwer sein wird, alle zu finden.

Wann beginnt die Zählung, wann hört sie auf?

Kein Historiker kann genau sagen, wer das erste und wer das letzte Opfer war. Die Zählung im Holocaust beginnt ab der Machtergreifung Hitlers am 30. Januar 1933 und geht über den 8. Mai 1945 hinaus.

Sie schließt also auch Juden ein, die an Spätfolgen starben oder nach ihrer Heimkehr durch antisemitische Pogrome?

Sie schließt auch Menschen ein, die durch Selbstmord oder Hunger kurz nach dem Krieg starben. Im KZ Bergen-Belsen etwa starben 20.000 Juden nach der Befreiung. Andere Überlebende kehrten in ihre Heimatländer zurück, etwa nach Polen oder Litauen, und wurden dort von einem antisemitischen Mob ermordet.

Zählen auch die rund 250.000 Gefallenen unter den 1,5 Millionen jüdischen Soldaten, die auf Seiten der Alliierten gegen die Nazis kämpften, zu den sechs Millionen?

Nein, das sind im Krieg gefallene Soldaten.

Hat die "runde Zahl" eigentlich nur eine symbolische oder auch eine politische Bedeutung?

Das Staatswappen Israels ist die Menora (ein ritueller siebenarmiger jüdischer Leuchter) mit drei Kerzen auf jeder Seite. Doch da gibt es keinen Bezug zum Holocaust, die Menora ist mit dem zweiten jüdischen Tempel verbunden. Allgemein gibt es bei den meisten Juden definitiv eine Angst, dass ein Holocaust noch einmal passieren könnte. Wie 1967 (im Sechstagekrieg) und 1973 (im Jom-Kippur-Krieg) oder auch jetzt mit dem Iran, der uns vernichten will.

David Fisher sagt, sein Dokumentarfilm werde in Deutschland nicht ausgestrahlt, weil er befürchte, dass der Film die Leugnung des Holocaust unterstützen könnte. Ist dieser Streifen etwas für Geschichtsrevisionisten?

Das könnte sein. David Fisher ist ein israelischer Jude und Sohn von Überlebenden. Er ist ein angesehener Produzent und hinterfragt die "runde Zahl". Warum sollten das dann andere nicht auch machen? Er selbst erzählte mir, dass er seinen Film Neonazis und Holocaustleugnern zeigen möchte, um sie zu überzeugen. Doch er versteht nicht, wie diese Menschen denken. Ich mache mir aber eher Sorgen um die allgemeine Öffentlichkeit. Viele junge Leute sind nicht gut informiert, und wenn dieser Filmemacher die sechs Millionen Opfer anzweifelt, werden andere ihm darin vielleicht folgen.

Mit Dina Porat sprach Tal Leder

Quelle: ntv.de

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