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Freihandelsvertrag vor Abschluss EU wetteifert mit China um die Gunst Südamerikas

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Ursula von der Leyen, hier bei ihrer Station in Santiago de Chile mit Präsident Gabriel Boric.

Ursula von der Leyen, hier bei ihrer Station in Santiago de Chile mit Präsident Gabriel Boric.

(Foto: AP)

Seit vergangenem Jahr geben sich Politiker von Rang und Namen aus Deutschland und der EU in Lateinamerika die Klinke in die Hand. Nun reist auch EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen durch die Region. Bis Ende des Jahres will sie beim Freihandel Nägel mit Köpfen machen.

Sie versuchen es mit aller Präsenz. Bundeskanzler Olaf Scholz war im Januar in der Region, danach kamen Wirtschaftsminister Robert Habeck und Landwirtschaftsminister Cem Özdemir, und auch Außenministerin Annalena Baerbock sowie EU-Außenrepräsentant Josep Borrell reisten nach Lateinamerika. "Die Beziehung ist kompliziert", sagte Borrell im Mai: "Europa braucht Verbündete, um in der Welt zu bestehen."

Nun vollführte Ursula von der Leyen, die Kommissionspräsidentin, innerhalb von vier Tagen Hauptstadthopping in der Region. Die großen, wichtigen Volkswirtschaften des Südens sollen helfen, europäische und damit auch deutsche Probleme zu lösen. Die EU braucht intensivere Partnerschaften in Schlüsselbranchen, insbesondere bei Energie und für Elektromobilität. Dazu kommt Ernährungssicherheit. Der Zugang zu Rohstoffen und grüne Energie für die europäische Industrie sollen besser abgesichert werden.

Die Partnerschaft und Freundschaft sei "in den letzten Jahren etwas eingeschlafen", sagte von der Leyen zum Reiseauftakt in der brasilianischen Hauptstadt Brasilia. Den Satz hätte sie auf jeder Folgestation ihrer mehrtägigen Lateinamerikareise wiederholen können: in Argentinien, Chile und abschließend auch in Mexiko. Es sind die wichtigsten Wirtschaftspartner der EU und Deutschland in der Region. Doch sie wurden eher stiefmütterlich behandelt, sowohl von Europa als auch den USA.

China investiert im Rahmen ihrer Infrastruktur-Initiative Neue Seidenstraße in Lateinamerika. Die EU will mit ihrer eigenen Initiative Global Gateway in den kommenden Jahren bis zu 300 Milliarden Euro im Ausland einsetzen, darunter auch für Erneuerbare Energien. Vielleicht wie nie seit Ende des Kalten Krieges drängt für Europa die Zeit: Die EU versucht angesichts des Klimawandels und wegen des russischen Angriffskrieges in der Ukraine, historische Partnerschaften endlich mit Tinte und Siegel zu vertiefen.

EU-Mercosur-Abkommen im Fokus

Das derzeit unabdingbare Lithium ist ein Schlüsselrohstoff für Berlin und die EU. In Argentinien, Bolivien und Chile lagern die größten Vorkommen. Die Batterieproduktion der deutschen Automobilbranche würde immer abhängiger von China, hatte von der Leyen im April in einer Rede im Europäischen Parlament gesagt. Sie forderte eine neue Herangehensweise: "Deshalb muss der Kern unserer künftigen China-Strategie auf wirtschaftliche Risikominimierung abzielen." Anders gesagt: Die EU will unabhängiger sein vom asiatischen Wirtschaftsriesen und seiner Batterieproduktion.

Engere wirtschaftliche Beziehungen mit Lateinamerika mit seinen mehr als 660 Millionen Einwohnern sind Teil dieser Risikominimierung. Ein wichtiger Baustein ist das Freihandelsabkommen zwischen EU und Mercosur, das den größten Wirtschaftsraum weltweit schaffen würde. Argentinien, Brasilien, Uruguay und Paraguay sind Mitglieder. Bolivien und Chile sind mit dem südamerikanischen Wirtschaftsraum assoziiert. In der Region sind Investitionen willkommen. Doch vertragliche Fesseln anlegen will sich kaum jemand.

Seit 2019 ist das Vertragswerk unterzeichnet, wurde jedoch nicht ratifiziert. In Westeuropa wehrten sich Landwirtschaft und Umweltschützer. Im Mercosur herrschte Sorge vor einem potenziell neokolonialistischen Ungetüm, das anderen vor ihrer eigenen Haustür Vorschriften macht, sowie die unterlegene Industrie benachteiligen und Arbeitsplätze vernichten könnte.

Nun wird über Zusatzvereinbarungen verhandelt, die beide Seiten überzeugen soll. Im März schlug die EU schriftlich vor, dass sich Brasilien verpflichten solle, die Klimaziele von Paris einzuhalten. Falls sie diese verfehlten, könnten Strafmaßnahmen folgen. Nach von der Leyens Gespräch mit Brasiliens Präsident Lula da Silva kritisierte dieser die EU öffentlich dafür: "Die Grundlage zwischen strategischen Partnern sollte gegenseitiges Vertrauen sein, nicht Misstrauen und Sanktionen", sagte er.

Der EU geht es insbesondere um den Schutz des Amazonas-Regenwalds, der für Viehhaltung und Sojaanbau abgeholzt und brandgerodet wird. Ohne mehr Waldschutz ist der Klimawandel wohl nicht aufzuhalten. Den können Greenpeace zufolge auch Zusatzvereinbarungen nicht garantieren. Stattdessen müsse das komplette Abkommen neu ausformuliert werden, so die Umweltorganisation. In seiner derzeitigen Form würden zu schnell wegfallende Zollschranken zudem Industriearbeitsplätze in Südamerika vernichten. Die dortigen Unternehmen sind demnach nicht konkurrenzfähig genug und brauchen mehr Zeit dafür, dass sich das ändert.

Partnerschaften für Energiewende

Brasilien als wichtigstes Land des südamerikanischen Wirtschaftsraumes kann es sich leisten, sich von der EU keine Vorschriften zu akzeptieren, wie es seine Wirtschaftsregeln gestalten soll. Der größte Abnehmer brasilianischer Exporte ist China. Nachbar Argentinien, die zweitgrößte Wirtschaftskraft des Mercosur, ist historisch traumatisiert und will seine Industrie schützen. In den 90er-Jahren gingen Teile der nationalen Wertschöpfung zugrunde, weil eigene Produktion durch Importe ersetzt wurden. Der Staat verschuldete sich und endete in einer Pleite, die vor allem Privatvermögen der Mittelschicht vernichtete.

Von der Leyen strich bei ihrer Station in Buenos Aires das europäische Interesse an Erneuerbaren Energien und Lithium samt nationaler Wertschöpfungskette hervor, also einer argentinischen Batterieproduktion, und unterzeichnete dafür die Absichtserklärung einer strategischen Partnerschaft. Dies könnte die Skepsis zumindest abmildern. Bereits jetzt kommt fast die Hälfte der ausländischen Direktinvestitionen in Argentinien aus der EU. "Wir streben einen so schnellen Abschluss wie möglich an, spätestens bis Ende des Jahres", sagte von der Leyen vor Unternehmern über das Abkommen.

Lithium wird auch in Chile im großen Stil abgebaut, eine ähnliche strategische Partnerschaft wie mit Argentinien ist in Abstimmung. In der Hauptstadt Santiago de Chile verkündete von der Leyen zudem die Gründung eines Investitionsfonds für Grünen Wasserstoff mit 225 Millionen Euro Global-Gateway-Geldern. Vereinbarungen mit Chile sollen die explodierende Nachfrage in der EU decken helfen. Laut von der Leyen rechnet Europa mit einem Importbedarf von 10 Millionen Tonnen Grünen Wasserstoffs jährlich.

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Zum Abschluss der Reise flog die Kommissionspräsidentin nach Mexiko-Stadt, die zweitgrößte Volkswirtschaft Lateinamerikas, und traf sich mit dem dortigen Präsidenten Andrés López Obrador. Mit der EU besteht schon ein Freihandelsabkommen, es stammt aus den 90er-Jahren. "Wir haben uns darauf geeinigt, die Verhandlungen zu beschleunigen und unser modernisiertes Freihandelsabkommen zwischen der EU und Mexiko vor Ende des Jahres abzuschließen", teilte von der Leyen mit. Auch bei Erneuerbaren Energien soll es Kooperationen geben.

Vom Mercosur erwarte von der Leyen indessen einen Gegenvorschlag, sagte sie. Den sollen dessen Chefverhandler mit der EU bereits Ende des Monats bei einem Treffen in Buenos Aires diskutieren. Im Juli folgt in Brüssel ein Gipfel mit allen lateinamerikanischen Staaten, der erste nach acht Jahren.

Quelle: ntv.de

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