Politik

Frank Sauer im Interview "Ein Querschläger ist kein bewaffneter Angriff"

Am Morgen nach dem Raketeneinschlag in Polen berieten die Staatschefs mehrerer NATO-Mitglieder, unter ihnen Biden, Macron, Sunak, Trudeau, Sanchez und Scholz.

Am Morgen nach dem Raketeneinschlag in Polen berieten die Staatschefs mehrerer NATO-Mitglieder, unter ihnen Biden, Macron, Sunak, Trudeau, Sanchez und Scholz.

(Foto: picture alliance/dpa/Bundesregierung)

Die Meldung vom Raketeneinschlag auf NATO-Gebiet weckte gestern Abend Ängste vor einer Eskalation des Krieges. Sicherheitsexperte Frank Sauer von der Universität der Bundeswehr in München gibt im Gespräch mit ntv.de Entwarnung. Die NATO hat im Artikel 5 viele Prozesse eingebaut, die eine Gewaltspirale verhindern sollen.

ntv: Die öffentlichen Reaktionen auf den Raketeneinschlag - aus Warschau, Brüssel, von Bali aus klangen nicht gerade nach Schnappatmung.

Frank Sauer: Zum Glück, ja.

Spricht das für die grundsätzliche Besonnenheit der NATO oder war man sich schon gestern Abend fast sicher, dass die Rakete nicht aus Russland kam?

Ich glaube, Polen hat da den Ton sehr früh gesetzt, indem die Regierung betont vorsichtig mit dem Vorfall umgegangen ist. Das konnten die Partner als klare Indikatoren verstehen, es ebenso zu tun. Aber auch generell gibt es meines Erachtens ein klares Verhalten der NATO. Es lässt Eskalationskontrolle und Eskalationsvermeidung von Beginn an als wichtige oder sogar als die zentrale Maxime erkennen.

Frank Sauer forscht an der Universität der Bundeswehr in München und ist Experte für Sicherheitspolitik, über die er auch regelmäßig im Podcast "Sicherheitshalber" diskutiert.

Frank Sauer forscht an der Universität der Bundeswehr in München und ist Experte für Sicherheitspolitik, über die er auch regelmäßig im Podcast "Sicherheitshalber" diskutiert.

Lwiw stand gestern sehr stark unter Beschuss und wird es als logistischer Knotenpunkt von der Westukraine nach Osten wohl auch bleiben. Gleichzeitig liegt die Stadt nur gut 50 Kilometer von der Grenze entfernt. Muss Polen fürchten, dass der Unglücksfall gestern nicht der einzige bleiben wird?

Damit mussten wir seit dem 24. Februar rechnen. Das war einer der Punkte, die gestern Abend sehr untergingen: So ungewöhnlich und neu war dieser Vorfall nun auch nicht. Schon im März sind 20 Kilometer von der polnisch-ukrainischen Grenze entfernt Raketen eingeschlagen, die auf Lwiw gezielt hatten. Das waren tatsächlich russische Raketen. Es ist auch schon eine russische Rakete in Moldawien eingeschlagen. Auch daran lässt sich ablesen, dass es sich tatsächlich um einen Unfall handelt und nicht etwa um eine Form von bewaffnetem Angriff, der dann in Artikel 5 mündet …

… dem Bündnisfall, der die NATO-Partner zu militärischem Beistand verpflichtet.

Wenn Russland diesen intensiven Beschuss weiter vornimmt, müssen wir damit rechnen, dass solche Dinge passieren. Der Fall von gestern hat meines Erachtens eine Fährte gelegt, wie auch in Zukunft mit solchen Unglücken umzugehen wäre. Eine Verstärkung der polnischen Flugabwehr an der Grenze zur Ukraine könnte, innerhalb eines NATO-Rahmens, dazugehören. Aber das werden die nächsten 48 Stunden zeigen, ob und wie es sich in eine solche Richtung bewegt.

Wenn wir uns einmal das Gedankenspiel erlauben, dass in den nächsten Monaten tatsächlich auch mal ein russischer Querschläger Todesopfer fordern könnte, wie würde die NATO adäquat reagieren?

Ich kann Entwarnung geben für alle, die gestern dachten, jetzt bricht der Dritte Weltkrieg aus, weil die NATO gar nicht anders kann als ….. - So funktioniert das zum Glück nicht.

Das ist sehr erfreulich. Wie funktioniert es stattdessen?

Ein Querschläger ist kein bewaffneter Angriff. Der ist definiert als ein systematischer und anhaltender Gebrauch von Waffengewalt gegen einen NATO-Mitgliedsstaat. Wenn nun eine Rakete versehentlich auf NATO-Territorium einschlägt, stellt das - bei aller Tragik für mögliche Opfer - noch keinen bewaffneten Angriff dar, der es rechtfertigen würde, Artikel 5 zu ziehen. Würde es einen solchen Vorfall wie gestern nochmals geben, und es wäre nachweislich ein russischer Marschflugkörper, dann wären wir mit Sicherheit auch in einem solchen Fall erstmal nur auf der Schwelle zu Artikel 4.

Artikel 4 sieht vor, dass das betreffende NATO-Mitglied die Partner über den Vorfall informiert und man offizielle Konsultationen abhält.

Das ist ein sehr weich gefasster Artikel, der den Austausch zwischen den NATO-Partnern, der rund um solche Ereignisse ohnehin stattfindet, auf ein offizielles Niveau hebt. Aber daran sind keinerlei zwangsläufigen Handlungen geknüpft, die eskalierend wirken würden. Und selbst bei einer Entwicklung, in der Artikel 5 zur Anwendung käme, drückt da niemand auf einen Knopf, sondern es beginnt ebenfalls ein politischer Prozess.

Aber nicht in Form einer Domino-Strecke, wo ein Stein den nächsten umkippt?

Exakt. Das sind keine Automatismen, sondern lauter politische Vorgänge, die von Umsicht und Abwägung geprägt sind - Konsensentscheidungen im NATO-Rat, unterschiedliche Auslegungen der Mitgliedstaaten, auch der Sicherheitsrat würde sich womöglich mit dem Problem befassen, wenn militärische Gewalt als letzte Option wirklich im Raum stünde.

Und diese Prozesse bedingen sich nicht gegenseitig.

Nicht in dem Sinne, dass automatisch eins aufs andere folgt und Eskalation die Folge ist. Im Gegenteil. Diese Prozesse stellen sicher, dass man eben nicht aus Versehen in eine Eskalation hineinstolpert. Sie sind genau dafür aufgesetzt worden, die NATO vor einer ungewollten Eskalation zu bewahren.

Mit Frank Sauer sprach Frauke Niemeyer

Quelle: ntv.de

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