Militärexperte im Interview Reisner: Rakete konnte nicht aus Russland stammen
18.11.2022, 12:23 Uhr (aktualisiert)
Beide Seiten nutzen Raketen des Typs S-300, die in Polen am Dienstag eingeschlagen ist. Für Militärhistoriker Markus Reisner von der Theresianischen Militärakademie in Wien war trotzdem sehr schnell klar, dass sie nicht von Russland aus abgefeuert sein konnte.
ntv.de: Als US-Präsident Biden öffentlich mutmaßte, es habe sich wohl um eine ukrainische Flugabwehrrakete gehandelt, musste man sich hinter den Kulissen schon sicher sein, oder?
Markus Reisner: Dass diese Rakete wohl nicht aus Russland abgeschossen worden ist, war relativ früh klar. Schon sehr zeitnah nach dem Einschlag standen Fotos zur Verfügung, und die Trümmer sind einer S-300 Flugabwehrrakete zuzuordnen. Das alleine würde noch nichts beweisen, denn der Typ ist auf beiden Seiten in Gebrauch. Die Russen setzen die S-300 zweckentfremdet als Boden-Boden-Rakete ein. Entscheidend ist aber: Die Rakete hat nur eine begrenzte Reichweite, im Gegensatz etwa zu einer Iskander-Rakete.
Sie käme von Russland aus gar nicht bis nach Polen?
Russland liegt viel zu weit weg. Da der Einschlagsort acht Kilometer von der polnisch-ukrainischen Grenze entfernt ist, müsste die Rakete im Westen der Ukraine abgefeuert worden sein. Theoretisch könnte sie auch aus dem südwestlichsten Gebiet von Belarus eingesetzt worden sein, aber das ist unwahrscheinlich. Dieser Einschlag ist im Zusammenhang mit einem russischen Luftangriff auf ein Objekt nahe der polnischen Grenze zu sehen. Dieses Objekt war geschützt durch ukrainische Fliegerabwehr, und eine dieser Raketen ist offenbar vom Abfangkurs abgewichen.

Oberst Markus Reisner ist Militärhistoriker sowie Leiter der Forschungs- und Entwicklungsabteilung an der Theresianischen Militärakademie in Wiener Neustadt. Seit Beginn der russischen Invasion analysiert er den Krieg in der Ukraine.
(Foto: Screenshot)
Wird man anhand der Trümmer jegliche Zweifel beseitigen können?
Wenn die Bergungstrupps vor Ort die Trümmerstücke einsammeln, werden Beschriftungen und Einstanzungen zum Vorschein kommen. Daran lässt sich erkennen, um welche Fertigungstranche es sich handelt, und dann ist feststellbar, ob diese Tranche in der Ukraine eingesetzt wurde oder in Russland. Anhand dieser Information kann man ziemlich klar sagen, woher eine Rakete stammt.
Läuft Polen Gefahr, dass sich in den kommenden Wochen solch ein Vorfall wiederholen könnte? Das Dorf, wo die Raketen einschlugen, liegt ja nur 60 Kilometer Luftlinie entfernt von Lwiw, das gestern so stark unter russischem Beschuss stand.
Lwiw ist der zentrale Knotenpunkt für die Versorgung aus dem Westen Richtung Osten. Darum bleibt die Stadt ein wichtiges Ziel für russische Angriffe, die ukrainische Infrastruktur zerstören sollen. Was übersehen wird: Parallel zu den Einschlägen in Polen erlebte die Ukraine gestern massive Luftangriffe der russischen Streitkräfte, in einer Qualität, wie wir sie bislang noch nicht gesehen haben. Etwa 100 ballistische Raketen, Drohnen und Marschflugkörper kamen zum Einsatz.
Das überfordert die ukrainische Luftabwehr?
Die ukrainische Luftabwehr ist seit Beginn des Krieges im Einsatz, ihr geht die Munition aus, um diese Angriffe abzuwehren. Russland versucht hier, an der Achillesferse anzugreifen. Und das so vehement, weil nur im Bereich der Luftangriffe Moskau überhaupt noch kurz- und mittelfristig handlungsfähig ist. Dadurch entsteht die paradoxe Situation, dass die Ukraine auf taktisch-operativer Ebene, also an der Frontlinie, sehr viel erreicht, sie aber auf der strategischen Ebene in der Defensive ist.
Durch die Angriffe auf das Stromnetz, auf kritische Infrastruktur scheint dieses Bombardement der Ukraine fast mehr zuzusetzen als die Situation an der Frontlinie.
Es gibt Hinweise darauf, dass hinter den Kulissen zwischen Russland und den USA eine Verhandlungslösung angestrebt wird, was die Ukraine derzeit ablehnt. Moskau und Washington streiten das ab, Indizien deuten aber in diese Richtung. Russland will über diese Angriffe Druck ausüben - auf die ukrainische Bevölkerung und auf den Westen. Je stärker die Bevölkerung leidet, desto mehr würde sie die Regierung in Kiew drängen, Verhandlungen zu starten. Das ist das Kalkül der Russen.
Mit Markus Reisner sprach Frauke Niemeyer
(Dieser Artikel wurde am Mittwoch, 16. November 2022 erstmals veröffentlicht.)
Quelle: ntv.de