Abklatschen beim SPD-Parteitag Gabriel, der Märtyrer
19.03.2017, 07:52 Uhr
SPD-Chef Sigmar Gabriel macht Platz für Martin Schulz - eine Entscheidung für die Partei.
(Foto: REUTERS)
Knapp zwei Monate nach seinem überraschenden Verzicht gibt Sigmar Gabriel offiziell sein Amt als SPD-Parteichef ab. Ein schwerer Schritt für ihn - aber einer, mit dem er der SPD aus dem Dauertief geholfen hat. Bejubelt wird trotzdem ein anderer.
Wenn Bundesaußenminister Sigmar Gabriel beim SPD-Bundesparteitag in Berlin vor die Delegierten tritt, sind zwar keine "Sigmar"-Sprechchöre zu erwarten. Dennoch dürfte die Parteibasis dem scheidenden Vorsitzenden ein wenig mehr Herzenswärme schenken als noch in Zeiten unsicherer Antworten auf die K-Frage. Man ist dankbar. Dankbar, weil in die Sozialdemokraten nach der überraschenden Personalrochade im Januar und jahrelanger Stimmungsflaute endlich wieder Leben eingekehrt ist. Und wie! Der jüngste Stern-RTL-Wahltrend sieht die SPD nur noch einen Prozentpunkt hinter der Union. Vergessen ist das 20-Prozent-Jammertal, in dem die Genossen seit der Bundestagswahl 2013 feststeckten. Für das Umfragehoch bejubelt wird vor allem Martin Schulz - "Mega-Martin", wie er von den Jusos genannt wird. Doch der Architekt dieses Erfolgs ist ein anderer. Gabriel.
In gewisser Hinsicht ist der 57-Jährige der Verlierer in seiner eigenen Siegesgeschichte. Ohne Zweifel hat er politisch am meisten geopfert. Die Kanzlerkandidatur, den Parteivorsitz, seine Machtposition innerhalb der SPD. Bei der Bundestagswahl tritt er nun als "einfacher" Direktkandidat für seinen Wahlkreis Wolfenbüttel-Salzgitter an - Gegenkandidaten gab es bei der Abstimmung nicht. Dafür aber eine emotionale Rede vom Shootingstar in der Partei. Martin Schulz. Gabriel sei ein Mann mit "außergewöhnlicher Charakterstärke", sagte der designierte SPD-Kanzlerkandidat in einer Wolfenbütteler Mehrzweckhalle. Mit dem "Phänomen des ganz oben und ganz unten" zeige sich der wahre Charakter eines Menschen. Gabriel sei "ein Glücksfall für den Wahlkreis, die Partei und die Republik". Der Angesprochene selbst konterte im Scherz: "Wenn das alles stimmen würde, was hier so erzählt wird …".
Den beiden SPD-Politikern wird eine enge Freundschaft nachgesagt - eine Freundschaft, die in den vergangenen Wochen sicher das ein oder andere Mal auf die Probe gestellt wurde. Mag Gabriel auch noch so uneitel daherkommen: Ihm wird nicht entgangen sein, dass auf den T-Shirts der Jusos nicht sein, sondern Martin Schulz' Konterfei prangt. Auch Medienberichte wie etwa im "Weser Kurier", in dem einige seiner Wolfenbütteler Genossen zugeben, nicht wegen ihm, sondern "dem Schulz" zur Abstimmung gekommen zu sein ("Der wird Kanzler!"), dürften Gabriel erreicht haben. Ganz zu schweigen von den zuweilen fast grotesken Lobeshymnen der SPD-Generalsekretärin Katarina Barley, die Schulz zum "George Clooney der SPD" erhob und ihm dafür dankte, dass "Du uns solche Flügel verleihst". Wer würde sich da nicht fragen, wo diese vorbehaltlose Unterstützung in den vergangenen Jahren war?
"Natürlich will ich Kanzler werden"
Die "Heiligsprechung des Martin Schulz", wie es die Junge Union genannt hat, fußt auf dem politischen Märtyrertum von Sigmar Gabriel. Das mag ein wenig zu melodramatisch klingen - Gabriel selbst sprach kurz nach seinem Verzicht von einer "gewissen Erlösung auf beiden Seiten". Dennoch ist man sich sogar an der Parteibasis darüber bewusst, dass Gabriel durch seine Entscheidung vor einer ungewissen politischen Zukunft steht. Ob, und wenn ja, welches Amt er nach der Bundestagswahl antreten wird, ist unklar. Für jemanden, der als äußerst ehrgeizig gilt, ist das eine bemerkenswerte Kehrtwende. Schon im Oktober 2015, zwei Jahre vor der Wahl, hatte Gabriel in einem "Stern"- Interview erklärt: "Natürlich will ich Bundeskanzler werden. Das ist doch gar keine Frage!"
Der scheidende SPD-Chef ist keiner, dem die Macht zugefallen ist. Als er 1998 Fraktionsvorsitzender seiner Partei im niedersächsischen Landtag wird, ist er bereits seit 20 Jahren SPD-Mitglied. Ein Jahr später übernimmt er auch dank der Unterstützung von Gerhard Schröder das Amt des Ministerpräsidenten von Niedersachsen - doch bei der Landtagswahl 2003 verliert er gegen Christian Wulff. Danach ist Gabriel zwischenzeitlich sogar Popbeauftragter der SPD - ein Amt, das beileibe wenig Aufstiegschancen bietet. Gabriel hat einige Rückschläge erlebt und weitergemacht. So unumstritten wie Schulz in diesen Tagen war er aber nie. Mäßige Wiederwahlergebnisse (und auch ein überaus schlechtes) als Parteichef belegen das.
Sigmar Gabriel und der Sack Flöhe
Siebeneinhalb Jahre hat sich der Niedersachse unter diesen Vorzeichen an der Parteispitze gehalten. Wenn er seinem Nachfolger viel Spaß dabei wünscht, "den Sack Flöhe zusammen zu halten", spricht da einer, der die Genossen auch von der weniger kniefälligen Seite kennt. Es ist sicher kein Fehler, wenn sich das auch Schulz vor seiner Kandidatenkür vergegenwärtigt. Zwar hat er - anders als Gabriel - nahezu keine bundespolitische Vorgeschichte, dennoch wird schon jetzt darüber spekuliert, ob der einstige EU-Parlamentarier das 99,4-Prozent-Wahlergebnis von Matthias Platzeck noch überbieten kann. Die Fallhöhe für Schulz, ist er erst einmal im Arbeitsalltag und der Großen Koalition angekommen, könnte kaum größer sein.
Gabriel wird sich hingegen von der SPD-Hauptbühne hinunterklatschen lassen. Dass seine Popularität bei den Genossen im Moment seines Abgangs am größten ist, nimmt er hin. Fast entschuldigend wandte er sich bereits in Wolfenbüttel den Delegierten seines Wahlkreises zu - sagte, er wisse, dass er es seiner Partei nicht immer leicht gemacht habe. "Aber es ist doch logisch, dass ein Vorsitzender zum Wohle seiner Partei entscheidet", sagte er. Logisch vielleicht schon, selbstverständlich sicher nicht. Bei allen Schwächen, die Gabriel als SPD-Parteichef gehabt haben mochte, Illoyalität gehörte sicher nicht dazu.
Quelle: ntv.de