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Verheerender Angriff bei Rafah Getroffenes Gaza-Camp lag neben der Schutzzone - lagerte dort Sprengstoff?

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Ein israelischer Luftschlag im Süden des Gazastreifens löst weltweit Entsetzen aus. Israels Premier Netanjahu räumt einen "tragischen Fehler" ein. Die israelischen Streitkräfte dementieren, in die "humanitäre Schutzzone" geschossen zu haben. Was genau ist passiert?

Bei einem israelischen Luftangriff am Abend des 26. Mai sind im Gazastreifen übereinstimmenden Angaben zufolge mindestens 45 Menschen getötet und Hunderte verletzt worden. Seitdem steht Israel massiv in der Kritik: Das militärische Vorgehen im Rahmen der Rafah-Offensive löst weit über die arabische Welt hinaus Empörung und wütende Reaktionen aus. Selbst engste Verbündete wie die USA reagieren betroffen.

Der Luftschlag soll nach Darstellung der israelischen Streitkräfte hochrangigen Hamas-Funktionären gegolten haben. Getroffen wurde jedoch offenkundig auch eine provisorische Einrichtung zur Unterbringung palästinensischer Binnenflüchtlinge. Teile des Zeltlagers gingen nach dem Beschuss in Flammen auf. Unter den Toten befinden sich zahlreiche Frauen und Kinder. Hilfsorganisationen wie der Rote Halbmond oder Ärzte ohne Grenzen warfen dem israelischen Militär vor, eine geschützte zivile Einrichtung in einer als sicher deklarierten Zone beschossen zu haben.

Wie genau es zu dem Vorfall kommen konnte, ist noch unklar. Anhand öffentlich verfügbarer Informationen lassen sich bisher nur Teile des Ablaufs rekonstruieren. Das Lager oder die unmittelbare Umgebung wurden demnach am späten Sonntagabend von mindestens einem israelischen Geschoss getroffen - wenige Stunden, nachdem Hamas-Raketen in Tel Aviv und anderen israelischen Städten den ersten größeren Luftalarm seit Januar ausgelöst hatten.

Unmittelbar nach dem Einschlag brach vor Ort ein Großbrand aus. Erste Aufnahmen aus der Nacht zeigten ausgedehnte Brände und chaotische, grauenvolle Szenen: Helfer zerren leblose Körper aus den Flammen. Weite Teile des Areals wirkten zerschmettert, verbrannt und vollkommen verwüstet.

Auf Fotos und Videoaufnahmen vom nächsten Morgen sind an der Unglücksstelle nur noch verbrannte Erde, zerstörte Habseligkeiten, verbogene Blechteile und ausgebrannte Autowracks zu sehen. Helfer berichten von Hunderten Verletzten mit Schrapnellwunden, Brüchen und schweren Verbrennungen.

Blick auf den südlichen Gazastreifen: Satellitenfoto vom 24. Mai, aufgenommen mit den Kameras der europäischen Erdbeobachtungssatelliten Sentinel-2.

Blick auf den südlichen Gazastreifen: Satellitenfoto vom 24. Mai, aufgenommen mit den Kameras der europäischen Erdbeobachtungssatelliten Sentinel-2.

(Foto: © ESA / Sentinel Hub)

Exakt bestimmen lässt sich der genaue Ort des Geschehens: Bei dem getroffenen Lager handelte es sich demnach um das "Kuwaiti Peace Camp 1" ("Kuwaiti Al-Salam Camp"), eine mit kuwaitischen Hilfsgeldern errichtete Behelfsunterkunft für Binnenvertriebene im Gazastreifen. Offen ist noch, wo genau die israelischen Geschosse einschlugen und wie der Angriff eine solch große Fläche verwüsten konnte.

Wie sich mittels Satellitenaufnahmen belegen lässt, ist das Lager erst kurz nach dem Jahreswechsel in den Tagen zwischen dem 31. Dezember und dem 10. Januar 2024 entstanden. Das Camp - etwa so groß wie ein Fußballfeld - befand sich außerhalb des Stadtgebiets von Rafah auf freier Fläche auf einer Anhöhe. Ausgebrannt ist eine ganze Reihe von Behelfsunterkünften. Ähnliche Behausungen in unmittelbarer Nähe blieben unversehrt, wie neue hochauflösende Satellitenfotos zeigen.

Außerhalb der "humanitären Zone"

Die Lage des Flüchtlingslagers muss den israelischen Streitkräften bekannt gewesen sein: Der mit Wellblechen und Zeltbahnen abgegrenzte Bereich des Camps ist selbst auf frei verfügbaren Satellitenbildern noch gut zu erkennen. Die Behelfsunterkunft lag östlich des Stadtteils Tal al-Sultan hinter einem weithin sichtbaren UN-Lagerhaus. Vom Lager bis zur Außenmauer der UN-Einrichtungen sind es weniger als 200 Meter. Der Stadtrand bei Tal al-Sultan ist 600 Meter entfernt, bis zum Stadtzentrum von Rafah sind es zweieinhalb Kilometer.

Der israelische Luftschlag traf die Menschen nördlich von Rafah unvorbereitet. Die israelische Bodenoffensive gegen verbliebene Hamas-Hochburgen konzentrierte sich zuletzt vor allem auf Regionen weiter im Süden. Gemäß der offiziellen israelischen Einteilung des Gazastreifens in Zonen lag das Camp außerhalb der zur Räumung vorgesehenen Bereiche - zugleich aber auch klar außerhalb des als "humanitäre Zone" deklarierten Gebiets bei Al-Mawasi.

Schwelende Überreste des Camps am Morgen danach: Im Hintergrund rechts sind die Dächer des UN-Lagerhauses zu erkennen.

Schwelende Überreste des Camps am Morgen danach: Im Hintergrund rechts sind die Dächer des UN-Lagerhauses zu erkennen.

(Foto: AP)

Die exakte Einschlagstelle lässt sich auf den Satellitenbildern nicht ausmachen. Auch auf den Fotos der im Gazastreifen verbliebenen Pressefotografen tauchten bisher noch keine belastbaren Hinweise dazu auf. Bisher ist noch ungeklärt, ob der israelische Beschuss auf Ziele im oder neben dem Camp gerichtet war.

Offene Fragen, auffallend starke Flammen

Unklar ist außerdem noch, wie es zu den Explosionen im Lager und dem verheerenden Großbrand kommen konnte. Unstrittig dagegen ist, dass es sich bei dem Auslöser um einen israelischen Angriff handelte. Kampfflugzeuge der israelischen Luftwaffe hätten "im Bereich Rafah auf Grundlage geheimdienstlicher Erkenntnisse einen Luftangriff gegen bedeutende Terrorziele durchgeführt", räumte das israelische Militär bereits am Morgen nach dem Vorfall ein.

Bei dem Angriff sei nicht näher genannte "Präzisionsmunition" verwendet worden, hieß es von israelischer Seite. Ziel des Luftschlags seien zwei hochrangige Hamas-Funktionäre gewesen: Yassin Rabia, der Chef des bewaffneten Arms der Organisation in der Westbank, sowie Khaled Nagar, der für tödliche Angriffe gegen israelische Soldaten und Zivilisten verantwortlich gewesen sein soll. Beide seien wie vorgesehen getroffen worden.

Stark vergrößertes Satellitenfoto, Aufnahme vom 24. Mai 2024: Blick auf das Gelände westlich von Tal al-Sultan und nördlich von Rafah im südlichen Gazastreifen mit "Kuwaiti Peace Camp 1" (roter Kreis).

Stark vergrößertes Satellitenfoto, Aufnahme vom 24. Mai 2024: Blick auf das Gelände westlich von Tal al-Sultan und nördlich von Rafah im südlichen Gazastreifen mit "Kuwaiti Peace Camp 1" (roter Kreis).

(Foto: © ESA / Sentinel Hub)

Bei dem Vorfall am Abend des 26. Mai muss allerdings etwas Unvorhergesehenes passiert sein. Die Menge der eingesetzten Munition - in israelischen Medien war zunächst die Rede von 17 Kilogramm, später hieß es: 34 Kilogramm - war nach Angaben des Militärs zu gering, um Zerstörungen und Brände in diesem Ausmaß zu hinterlassen.

Dem Vernehmen nach sollen Luft-Boden-Raketen mit reduzierten Sprengköpfen zum Einsatz gekommen sein. Solche Munition verwendete das israelische Militär in früheren Fällen zum Beispiel, um führende Hamas-Mitglieder in ihren Fahrzeugen inmitten des fließenden Verkehrs zu beschießen.

"Wir schauen uns alle möglichen Ursachen an", erklärte ein Sprecher der israelischen Streitkräfte mit Blick auf die Untersuchungen. Denkbar wäre zum Beispiel, dass auf dem Gelände - "neben dem Ziel", wie es heißt - auch Waffen oder Sprengstoff gelagert waren, die durch den Einschlag der israelischen Geschosse in Brand geraten seien. Videoaufnahmen aus der Unglücksnacht enthalten demnach Hinweise auf typische Folgeexplosionen. Allerdings waren bei dem Großfeuer offenkundig auch mehrere Fahrzeuge in Flammen aufgegangen, was ebenfalls zu einzelnen Detonationen geführt haben könnte.

"Tragischer Fehler" - mit Folgen?

Im Vorfeld des geplanten Luftschlags seien "eine Reihe von Schritten unternommen worden, um das Risiko für Zivilisten zu minimieren", betonte das israelische Militär. Das Zielgebiet sei unter anderem aus der Luft überwacht und die Beobachtungen seien mit zusätzlichen Geheimdienstinformationen abgeglichen worden. Premierminister Benjamin Netanjahu sprach von einem "tragischen Fehler" und kündigte eine Untersuchung des Vorfalls an.

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Das betroffene Flüchtlingslager wurde wenige Tage nach dem katastrophalen Beschuss komplett geräumt. Auf neuen, hochauflösenden Satellitenbildern ist zu erkennen, dass nicht nur die Unterkünfte neben dem ausgebrannten Camp verschwunden sind, sondern auch nahezu alle Zelte in der weiteren Umgebung.

Der verhängnisvolle Angriff offenbart die enormen Risiken für die palästinensische Bevölkerung, die Israel mit dem militärischen Vorgehen gegen die Hamas inmitten des dicht besiedelten Gazastreifens eingeht. UN-Generalsekretär António Guterres kritisierte den verheerenden Luftschlag scharf. "Ich verurteile Israels Vorgehen, bei dem zahlreiche unschuldige Zivilisten getötet wurden, die nur Schutz vor diesem tödlichen Konflikt suchten", erklärte Guterres mit. Es gebe für die Palästinenser im Gazastreifen keinen sicheren Ort. "Dieser Horror muss aufhören."

Quelle: ntv.de, mmo

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