Deutsch-Israelin im Interview "Das ist viel schlimmer als alles, was wir je erlebt haben"
11.10.2023, 09:49 Uhr Artikel anhören
Am Samstag in Tel Aviv, nach dem Einschlag einer Rakete aus dem Gazastreifen.
(Foto: REUTERS)
Jenny Havemann lebt seit 2010 in Israel, sie und ihre Familie wurden am vergangenen Samstag vom Raketenalarm geweckt. Im Interview mit ntv.de berichtet sie über die Stimmung im Land, erzählt von der Angst um die Geiseln und von der Entschlossenheit der Israelis - trotz der politischen Spaltung. "Jetzt stehen selbstverständlich alle zusammen und kämpfen und helfen einander."
ntv.de: Sie leben mit Ihrer Familie in der Stadt Ra'anana nördlich von Tel Aviv. Wie haben Sie den Samstag erlebt, als der Angriff der Hamas begann?

Jenny Havemann ist 2010 mit ihrem Mann von Deutschland nach Israel ausgewandert. Sie gründete 2016 die Firma GIIN, German-Israeli Innnovation Network, und bloggt über deutsch-israelische Themen.
(Foto: privat)
Jenny Havemann: Wir sind am Samstagmorgen um 06.30 Uhr morgens vom Raketenalarm geweckt worden. Da haben wir uns sehr gewundert, weil es die Raketen aus dem Gazastreifen Gott sei Dank normalerweise nicht so weit nach Norden schaffen. Wir haben die Kinder gepackt, sind in den Bunker gelaufen und haben erst einmal abgewartet. Weil wir Schabbat halten, haben wir kein Telefon benutzt, auch keinen Fernseher und kein Internet.
Sie wussten also zunächst nicht, was eigentlich los war.
Wir haben einfach gedacht: Okay, das ist wie immer, alle zwei Jahre kommt es halt zu Raketenbeschuss. Wir haben uns dann wieder hingelegt und sind um neun in die Synagoge gegangen - es war ja nicht nur Schabbat, sondern auch Simchat Tora, ein Feiertag. Erst in der Synagoge haben wir ein paar Informationen bekommen, weil zu der Gemeinde auch Leute gehören, deren Kinder bei der Armee sind oder die selbst in Geheimdienst-Einheiten arbeiten. Als wir hörten, dass mehrere Menschen getötet worden waren und dass Leute nach Gaza entführt wurden, waren wir ziemlich geschockt. Das ganze Ausmaß haben wir erst am Abend mitbekommen. Da hieß es, dass es 100 Tote gibt und etwa 50 Menschen verschleppt wurden.
Israel ist kein sehr großes Land. Sind auch Freunde oder Angehörige von Ihnen von den Angriffen betroffen?
Aus meinem unmittelbaren Freundeskreis nicht, aber eine Bekannte hat mir am Samstag geschrieben, dass ihr Sohn, der in der Nähe von Gaza in einem Kibbuz lebt, vermisst wird. Eine Bekannte bei uns in der Stadt erzählte mir später, dass eine Freundin und ihre Familie ermordet wurden. Solche Informationen kommen jetzt immer häufiger.
Mittlerweile ist klar, dass 150 Menschen von den Hamas-Terroristen in den Gazastreifen verschleppt wurden. Die Angehörigen der Verschleppten bitten die Regierung, das Leben ihrer Liebsten nicht zu gefährden. Wie geht die Gesellschaft mit dem Dilemma um, dass der Kampf gegen die Hamas zwangsläufig das Leben der Geiseln aufs Spiel setzt?
Die Menschen hier haben schon so viele Terroranschläge und Kriege erlebt - die sind nicht naiv. Sie wissen, dass die Regierung sich Mühe geben wird, die Menschen rauszuholen, aber dass sie zugleich auch das Land schützen muss. Das heißt, die Armee muss jetzt die Stellungen der Hamas so weit zerstören, dass sie uns nicht mehr gefährden können. Alles andere würde noch mehr Opfer bedeuten. Ich gehe deshalb davon aus, dass das israelische Militär eine Bodenoffensive vorbereitet. Das sagen auch die Medien hier in Israel. Und ja, natürlich wird das Militär versuchen, die Leute rauszuholen. Aber in Israel hat fast jeder bei der Armee gedient, so gut wie alle Männer und Frauen haben Armee-Erfahrung. Die wissen, dass das Militär nicht garantieren kann, dass sie alle Geiseln retten können. Und ich befürchte, dass die Hamas jetzt zwar so tut, als würde sie die Geiseln als Schutzschilde benutzen. Aber dass sie die Leute auf jeden Fall töten wollen, egal, was Israel macht.
Über Monate ist in Israel gegen die Justizreform von Ministerpräsident Netanjahu demonstriert worden. In Berichten hieß es immer wieder, das Land sei gespalten und stehe sogar fast vor einem Bürgerkrieg. Gibt es diese Spaltung noch?
In meinem Umfeld bekomme ich davon nichts mit, weil jetzt alle darauf fokussiert sind, das Land zu schützen. Angeblich ist in rechten Netzwerken die Rede davon, dass die Linken bei der Armee die Regierung absichtlich nicht über die drohende Gefahr informiert hätten. Aber das ist natürlich Fake News. Andere fragen, warum eine solche Katastrophe passieren musste, damit wir als Volk geeint sind. Ich finde beide Aussagen sehr gefährlich, weil sie nichts damit zu tun haben, was jetzt gerade passiert.
Inwiefern?
Ich habe selbst an den Demonstrationen gegen die Justizreform teilgenommen. Aber die politische Spaltung ist das eine - das hat jedoch nichts mit der lebensbedrohlichen Situation zu tun, der das Land jetzt ausgesetzt ist. Jetzt stehen selbstverständlich alle zusammen und kämpfen und helfen einander. Und alle, die eingezogen werden, kämpfen an der Front, egal ob sie für oder gegen die Justizreform sind.
Glauben Sie, dass die gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzungen die Hamas dazu animiert haben, Israel jetzt anzugreifen? Weil sie dachten, das Land sei geschwächt?
Das weiß ich nicht. Allerdings nehme ich an, dass dieser Angriff über eine längere Zeit geplant wurde. Das dürfte weiter zurückgehen als die Pläne für die Justizreform und die Demonstrationen dagegen. Einen Zusammenhang würde ich eher zur Zunahme der Ausschreitungen im Westjordanland sehen, weil die dazu geführt haben, dass Soldaten aus dem Süden dorthin geschickt wurden. Und es war sicher auch kein Zufall, dass der Angriff am Schabbat und an einem Feiertag erfolgte. Aber das sind alles Spekulationen.
Sie meinen, es wäre eine Fehlannahme der Hamas gewesen, wenn die geglaubt hätte, Israel sei durch die politischen Auseinandersetzungen geschwächt gewesen?
Ja, absolut. Das Militär war nicht geschwächt. Ja, es gab Reservisten, die aus Protest nicht zum Dienst bei der Armee erschienen sind. Aber das waren keine aktiven Soldaten.
Deutsche Politiker haben mehrfach Solidarität mit Israel bekundet, die Bundesregierung will die Hilfen für die Palästinenser überprüfen. Kommen solche Signale in Israel an?
Ja, natürlich. In Israel und auch in der jüdischen Community in Deutschland wird schon seit Langem gefordert, dass Deutschland seine Zahlungen an die Fatah und an einzelne Projekte im Gazastreifen einstellt. Denn viele dieser Gelder werden benutzt, um Terror zu finanzieren. Gut ist auch, dass in Deutschland jetzt endlich über ein Verbot von Organisationen wie Samidoun gesprochen wird, die Verbindungen zu palästinensischen Terrorgruppen haben und in Berlin antisemitische Jubelfeiern organisiert haben. Das hätte alles längst passieren müssen.
"Wir werden den Nahen Osten verändern", sagte Netanjahu. Haben Sie eine Vorstellung davon, in welche Richtung das gehen soll?
Ich würde nicht jedes Wort von Netanjahu auf die Goldwaage legen. Er redet immer sehr polemisch. Was das genau bedeutet? Es wird sicher vor allem darum gehen, der Hamas Angst zu machen. Israel hat in den letzten Jahren mehrere Verträge mit arabischen Staaten geschlossen. Die Beziehungen im Nahen Osten sind heute anders als noch vor ein paar Jahren. Aber inwiefern die Lage sich jetzt verändern wird, ist, glaube ich, zum jetzigen Zeitpunkt noch ungewiss.
Wie würden Sie die Stimmung in Israel beschreiben? Steht das Land unter Schock oder ist man dafür zu sehr an Krieg und Terror gewöhnt?
Was hier seit Samstag geschehen ist, ist viel, viel schlimmer als alles, was wir jemals erlebt haben. Die Menschen haben sehr große Angst. Sie haben das Gefühl, dass jederzeit noch Schlimmeres geschehen kann. Schon die Zahl der Opfer ist so enorm groß. Ich war gerade in einem Laden und habe Sachen gekauft für Familien im Süden, und habe mich mit der Verkäuferin unterhalten. Sie hat angefangen zu weinen und sagte: Oh mein Gott, was wird jetzt? Ihr Enkel und ihre Enkelin sind im Süden und kämpfen. Natürlich haben wir Angst davor, dass noch mehr Menschen sterben.
Mit Jenny Havemann sprach Hubertus Volmer
Quelle: ntv.de