"Besser nicht" anklagen Henry Kissinger: Nicht alle Kriegsschuld bei Putin
24.05.2023, 16:56 Uhr
Kissinger kritisiert die frühere NATO-Politik des Westens, was die Ukraine angeht. (Archivbild).
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Kurz vor seinem 100. Geburtstag erklärt der frühere US-Außenminister Kissinger in einem Interview, warum er früher gegen eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine war - seine Meinung aber mittlerweile angepasst hat. Einen Atomwaffeneinsatz Russlands hält er weiter für unwahrscheinlich, sieht aber eine rote Linie.
Der frühere US-Außenminister Henry Kissinger hat die Verantwortung für den Ukraine-Krieg nicht ausschließlich dem russischen Präsidenten Wladimir Putin zugeschrieben. "Ich bin übrigens nicht der Meinung, dass alle Schuld bei Putin liegt", sagte er der Wochenzeitung "Die Zeit". Er habe schon 2014 "ernste Zweifel an dem Vorhaben geäußert, die Ukraine einzuladen, der NATO beizutreten. Damit begann eine Reihe von Ereignissen, die in dem Krieg kulminiert sind".
Kissinger, der am 27. Mai 100 Jahre alt wird, sprach in dem Interview von einem "höchst rücksichtslosen" Angriffskrieg Russlands unter Präsident Putin. "Der Krieg selbst und die Kriegsführung sind höchst rücksichtslos, der Angriff muss zurückgeschlagen werden, und ich befürworte den Widerstand der Ukrainer und des Westens." Russland dürfe nicht gewinnen. Er sei aber weiterhin der Auffassung, "dass es nicht weise war, die Aufnahme aller Länder des ehemaligen Ostblocks in die NATO mit der Einladung an die Ukraine zu verbinden, ebenfalls der NATO beizutreten".
Damals sei er der Meinung gewesen, "dass die Ukraine am besten neutral geblieben wäre, mit einem Status ähnlich wie seinerzeit Finnland". Inzwischen spricht er sich jedoch dafür aus, dass die Ukraine nach Kriegsende ins westliche Militärbündnis kommt. "Heute bin ich absolut dafür, die Ukraine nach dem Ende des Krieges in die NATO aufzunehmen. Jetzt, da es keine neutralen Zonen mehr zwischen der NATO und Russland gibt, ist es besser für den Westen, die Ukraine in die NATO aufzunehmen." Auch Finnland gehört inzwischen zur NATO.
Kissinger glaubt weiter nicht an Atomwaffen-Einsatz
Kissinger sagte weiter, er glaube nicht, dass Putin gegen die Ukraine Atomwaffen einsetzen werde. "Aber je mehr es um den Kern der russischen Identität geht, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, dass er es tut." Den Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs gegen den Kremlchef kritisierte er. "Putin vor Gericht? Besser nicht!" Es werde "unmöglich, oder sehr viel schwieriger, einen Krieg zu begrenzen, wenn man den Ausgang des Krieges mit dem persönlichen Schicksal eines politischen Führers verknüpft".
Der in Fürth geborene Kissinger war unter dem früheren republikanischen US-Präsidenten Richard Nixon nationaler Sicherheitsberater und von 1973 bis 1976 US-Außenminister. Er gilt als Inbegriff eines Realpolitikers und trieb im Kalten Krieg eine Verbesserung der Beziehungen zum Erzrivalen Sowjetunion voran.
Für die Rolle der USA im Vietnamkrieg, gerade bei der Bombardierung der Nachbarländer Laos und Kambodscha, sowie beim Pinochet-Putsch in Chile 1973 stand der Diplomat zeitlebens in der Kritik, blieb aber ein in Washington viel gefragter und einflussreicher Berater.
Im Laufe des Kriegs in der Ukraine hat er bereits mehrfach seine Einschätzungen geteilt. Im Juli 2022 riet er etwa der Ukraine und dem Westen, in Verhandlungen mit Russland keine nach Kriegsbeginn besetzten Gebiete abzutreten. Die Verantwortlichen des Westens müssten vorher Grenzen ziehen, "und ukrainisches Staatsgebiet aufzugeben, sollte nicht eine der Bedingungen sein, die wir akzeptieren können", sagte Kissinger damals. Vor Verhandlungen müsse man sich klar werden, worüber man bereit sei zu verhandeln, und was man unter keinen Umständen bereit sei preiszugeben, sagte der Politologe.
Quelle: ntv.de, mpe/dpa/AFP