Lindner über Kinder, Merz, Autos"Ich würde anderen nie sagen: Ist total easy"

Zum zehnten Mal in Folge sprechen wir zum Jahreswechsel mit Christian Lindner. "Deutschland hat die besten Jahre noch vor sich", sagte er 2016. Ein Gespräch über Hoffnungen und Eitelkeiten, Gebrauchtwagen und Kinder.
ntv.de: Herr Lindner, nach 25 Jahren haben Sie die Politik verlassen. Haben Sie eine Überschrift für die nächsten zehn Jahre?
Christian Lindner: Alles kann, nichts muss.
Klingt nach … neuer Freiheit für den ehemaligen FDP-Vorsitzenden.
Ja, die genieße ich auch. Allerdings meinte ich es vor allem mit Blick auf unser Land. Das hat Chancen, aber gesichert ist eine prosperierende Zukunft nicht.
Vermissen Sie nicht auch Politik und Bundestag?
Nein. Aber ich vermisse manche Kolleginnen und Kollegen.
Welche?
Vor allem viele aus der FDP mit denen ich über Jahre nahezu täglich im Austausch stand… aber dieses Kapitel ist mit großer Dankbarkeit abgeschlossen.
Selbst Kritiker von Christian Lindner sagen: Seine rhetorische Begabung, die liberalen Perspektiven fehlen im Bundestag. Sie vermissen den Bundestag nicht. Aber der Bundestag vermisst vielleicht Sie. Gibt es da eine Art Pflichtgefühl?
Es war ja nicht so, dass ich gesagt habe, ich scheide freiwillig aus. Mein Vertrag ist von den Bürgerinnen und Bürgern nicht verlängert worden. Nun kandidiere ich nicht mehr für öffentliche Ämter.
Wenn Sie gerufen würden?
Es ist wirklich zu Ende.
Haben Sie eigentlich den Job bei Autoland schon angetreten?
Mein Vertrag beginnt am 1. Januar.
Und Sie trauen sich zu, dort jetzt Vertrieb und Marketing zu leiten?
Ja, ich freue mich auf die Herausforderung. Mit Markenführung, Vertrieb und Digitalisierung habe ich mich vor der Politik und im Management politischer Organisationen beschäftigt. Damit verbreitere ich nun die Führung der Autoland AG. Wir wollen deren beeindruckende Wachstumsstory fortsetzen. Bislang bieten wir bezahlbare Mobilität mit dem eigenen Auto vor allem in Ostdeutschland, jetzt geht es um die bundesweite Expansion, den Ausbau des digitalen Vertriebskanals und die Verbreiterung des Produktangebots.
Das war jetzt der Werbeblock für Autoland. Spötter raunen, „Mensch, jetzt wird der Lindner Gebrauchtwagenhändler“…
… wir verkaufen überwiegend Neu- und Jahreswagen …
… und sagen, sie hätten Ihnen irgendwie mehr zugetraut, mehr Glanz erwartet.
Vom Urteil fremder Leute habe ich mich nie abhängig gemacht. Wäre ich in das Management eines Hedgefonds eingetreten, dann hätten manche gesagt: "Da schau mal, jetzt hat ihn die Finanzindustrie eingekauft." Würde ich etwas machen mit Bezug zum öffentlichen Sektor, dann würde es heißen: "Jetzt verkauft er als Lobbyist sein Adressbuch." Wem Auto, Familienunternehmen und Ostdeutschland zu wenig Glanz bieten, der sollte sich prüfen, ob er verstanden hat, worauf gesellschaftlicher Wohlstand beruht. Ich jedenfalls freue mich auf eine Aufgabe, die echte operative Verantwortung und unternehmerische Freiheit bedeutet. Die Autoland AG ist ein hochprofitables Unternehmen, dessen Umsatz wir in fünf Jahren auf zwei Milliarden Euro verdoppeln wollen. Und das in einer Branche, die mir, wie man weiß, sehr viel Freude macht.
Sie machen ja noch vieles andere. Gab es auch Mandate, wo Sie gesagt haben, Stichwort Adressbuch vergolden, „Das mache ich nicht?“
Ja. Ich bin dankbar dafür, dass ich die Wahl zwischen verschiedenen attraktiven Angeboten habe. Aber ich habe mich jetzt erst einmal nur für die Engagements entschieden, wo ich einen persönlichen Bezug zum Unternehmen oder zur Branche habe.
Bei der Lhoist Rheinkalk? Wo Sie jetzt im Aufsichtsrat sitzen?
Ja, tatsächlich auch da. Mir war wichtig, dass ich die Transformation der Industrie begleiten kann. Deren Wettbewerbsfähigkeit ist mir ein Anliegen. Kalk ist Teil vieler industrieller Wertschöpfungsketten beginnend beim Stahl. Und ganz konkret ist einer meiner Urgroßväter 1919 als Sprengmeister bei Rheinkalk eingetreten. Ich habe sogar seit einigen Jahren die Buchhaltungskladde, in der die ersten Wochenlöhne meines Urgroßvaters quittiert worden sind, aus dem Unternehmens-Archiv.
Ist das jetzt unter Umständen ein wenig langweilig für Sie? Man sitzt so mit alten weißen Männern in Gremien rum und…
… das war eher die Vergangenheit, die Sie gerade beschrieben haben.
Bitte?
Ich will es mal so auf den Punkt bringen: Wenn Sie ein politisches Vorhaben auf den Weg bringen wollen, dann sagen Sie, "Okay, das ist mein Modell." Und schon die eigenen Fachleute, die anderen Ministerien, der Koalitionspartner, der Bundesrat, das Verfassungsgericht, das Europäische Recht, die lassen dann vielleicht am Ende von ihren 100 Prozent 20 Prozent übrig. Das ist in der Wirtschaft anders. Mehr Gestaltungsmöglichkeit, aber zugleich klarere Haftung für messbare Ergebnisse.
Jetzt haben Sie fast ein Jahr Zeit gehabt nach dem Politik-Aus. Haben Sie etwas Neues an sich entdeckt?
Also, ich bin 2025 Vater geworden und das ändert alles. Wie man Dinge sieht, was man sieht und den Blick aufs Leben. Fast trivial zu sagen: Alles wurde in diesem Jahr ab April anders.
Mir sagte mal jemand zum Thema Kinderkriegen: "Jetzt müssen Sie immerhin nicht mehr nach dem Sinn des Lebens suchen." Geht Ihnen das auch so?
Das teile ich absolut, ja.
Was hat sich noch alles geändert?
Im Alltag denkt man die Tochter immer mit. Du lebst eben jetzt nicht als Endverbraucher deiner eigenen Lebenschancen, sondern es hängt ein kleiner Mensch dran. Mir fallen andere Dinge auf.
Haben Sie ein Beispiel?
Wie schnell manche mit dem Auto am Spielplatz vorbeifahren. Es ändert sich die Lebensperspektive. Und was die ganz langfristige Ausrichtung von Politik angeht, habe ich mich eher noch radikalisiert.
Radikalisiert?
Staatsverschuldung, nachhaltiges Haushalten, so was.
Wie geht es Ihrer Tochter?
Ausgezeichnet. Sie ist zauberhaft. Der schönste Moment ist, sie zum Lachen zu bringen. Da geht mir das Herz auf.
Wären Sie da nicht ausgelastet mit der jungen Vaterrolle statt sich jetzt insgesamt sechs neue Jobs, also ein Hauptjob und Aufsichtsmandate, zu suchen?
Ich war mit voller Energie Politiker, dieselbe Energie investiere ich nun in meine beruflichen Tätigkeiten. Meine Frau und ich haben gemeinsam entschieden, dass wir zusammen unsere Familie tragen, aber dass wir beide voll unsere Jobs machen wollen. Meine Frau ist ja als Journalistin und Unternehmerin auch stark gefordert.
Es gibt keine Aufteilung?
Nein, wir haben beide dieselben Freiheiten und dieselben Aufgaben.
Klappt das gut? Man kann sich ja viele Sachen vornehmen und im Alltag stellt man dann fest: Schwierig
Natürlich ist das eine ständige Herausforderung. Wer behauptet, das geht einem leicht von der Hand, der erweckt den falschen Eindruck. Denn kleine Kinder sind nicht organisiert und planbar. Die leben. Und die haben ihre Bedürfnisse. Die Bedürfnisse ändern sich. Und jetzt, im Falle unserer kleinen Tochter, sind die auch nicht immer sofort klar. Was ist jetzt das Bedürfnis? Hat sie nun schlechte Laune oder Zahnziehen oder hat sie Bauch-Aua? Insofern, natürlich ist das eine Herausforderung und ich würde nie anderen sagen "ist total easy".
Stellen wir uns vor, Ihre Tochter will in 20 Jahren in die Politik einsteigen. Würden Sie ihr dazu raten?
Ich würde ihr bei allem, was sie will, immer meine Unterstützung bieten. Ich würde auch nicht abraten. Man muss nur wissen, was man tut. Was einem die Politik für großartiges Erfahrungen ermöglicht, aber auch, welchen persönlichen Preis politische Ämter verlangen.
Was sagen Sie der Tochter, wenn sie älter ist, 5 oder 6, und fragt: Papa, was war die Ampel?
5, 6? Bisschen früh? Die glauben bei einer Ampel noch an Verkehrszeichen. Die Ampel war eine Koalition von drei sehr unterschiedlichen Parteien, die in Zeiten der Krise ihrer staatspolitischen Verantwortung gerecht geworden sind, die am Ende aber keine gemeinsame Gestaltungsidee für Deutschland hatten. Weshalb es eine Neuwahl gegeben hat. Das Tragische ist, dass die Große Koalition genau da weitermacht, wo die Ampel aufgehört hat.
Wir wollen es mit Horst Seehofer halten, der sagte: "Es gibt einen Grund, warum der Rückspiegel kleiner ist als die Windschutzscheibe."
Sehr gut.
Aber dennoch ganz kurz zur Ampel. Wenn Sie irgendeinen Satz, einen Erkenntnisgewinn aus dem Scheitern der Ampel formulieren müssten. Was wäre das?
Also doch etwas Rückspiegel. Koalitionsverträge sollten kurz und präzise sein, keine verkappten Dissense tarnen und nicht einfach nur mit zusätzlichem Geld politische Unterschiede verdecken wollen.
Ist denn Friedrich Merz, aus Ihrer Perspektive, ein guter Bundeskanzler?
Ich fühle mich auf der internationalen Ebene von Friedrich Merz habituell ordentlich repräsentiert. Man hat den Eindruck, dass er persönliche Beziehungen aufbauen kann.
Und sonst?
Was er angekündigt hat, liefert er nicht. Er macht oft sogar das Gegenteil dessen, wovon er über Jahrzehnte gesagt hat, dass es im überragenden Interesse des Landes wäre.
Sie sprechen von den Finanzen?
Nicht nur. Weil ich eine Wirtschaftswende für nötig gehalten habe, die die Regierung Scholz nicht liefern konnte, habe ich in Kauf genommen, entlassen zu werden. Ich dachte, Deutschland hat so die Chance auf einen politischen Neuanfang und vielleicht spielt die FDP dabei sogar mit. Nun stelle ich wie viele andere fest: Der Neuanfang bleibt aus. Wir haben Merz-Schulden, aber keine Merz-Reformen. Stattdessen steigen Staatsquote und staatliche Lenkung zu Lasten der Marktwirtschaft. Woran die FDP Rot-Grün gehindert hat, das setzt die CDU nun um. Am Ende dieses Jahrzehnts werden wir einen hohen Anteil des Bundeshaushalts für Zinsen aufwenden, für die Schulden, mit denen Merz seine Kanzlerschaft begründet hat. Und dann hat er noch aufgrund mangelhafter Vorbereitung in Brüssel und aufgrund des Irrtums, man folge ihm schon nur weil er Bundeskanzler ist, die rote Linie der Gemeinschaftsschulden in Europa aufgegeben…
…bei dem 90-Milliarden-Euro-Hilfskredit für die Ukraine, der vom EU-Haushalt abgesichert wird …
… wenn ich das gemacht hätte als Finanzminister, die Union hätte gefordert, dass ich geteert und gefedert werde. Und zwar zu Recht. Denn durch die Vergemeinschaftung der Schulden geht über kurz oder lang die fiskalische Disziplin verloren. Für die unverzichtbare Unterstützung der Ukraine hätte man eine andere Lösung suchen sollen.
Sie schätzen doch Friedrich Merz. Haben Sie regelmäßig Kontakt zu ihm?
Ich schätze ihn menschlich. Und ja, gelegentlich gab und gibt es persönlichen Kontakt.
Warum handelt Merz so?
Wenn ich mich um eine objektive Erklärung bemühe, dann würde ich spekulieren: Er glaubt, aus geopolitischen Gründen in der Innenpolitik alle möglichen Zugeständnisse machen zu müssen. Das halte ich allerdings für einen Irrtum. Denn die geopolitische Stärke von Europa und Deutschland ist in unserer wirtschaftlichen Stärke begründet. Die Wiederherstellung von Wettbewerbsfähigkeit muss daher Teil der Resilienzstrategie sein.
Das Argument ist auch, dass Deutschland eine stabile Regierung braucht, weil es vielleicht die letzte stabile Regierung der Mitte ist. Stichwort "Letzte Patrone der Demokratie", wie CSU-Chef Markus Söder das genannt hat.
Das ist eine Frage, die müssen jetzt die Parteistrategen bei Union, SPD, Grünen und FDP diskutieren. Wie ist der richtige Umgang mit einer AfD, die in manchen Landstrichen Deutschlands ja bereits die stärkste Kraft ist? Wie geht man mit der um, wenn sie zugleich bisweilen ja sogar noch Radikalisierungstendenzen zeigt?
Aber Sie bieten jetzt auch keine Lösungen.
Ich bin kein Parteistratege mehr, und deshalb kann ich momentan nur sagen: Ich sehe dieses Dilemma. Meine Grundüberzeugung ist: Bestimmte Probleme müssen gelöst werden, die die AfD einst groß gemacht haben.
Migration?
Zum Beispiel. Es ist deshalb richtig, dass Alexander Dobrindt in der Migrationspolitik den eingeschlagenen Weg so konsequent fortsetzt. Die ökonomischen Sorgen indessen bleiben. Und wenn die Menschen das Gefühl haben, dass die nicht ernst genommen werden, dann wenden sie sich möglicherweise falschen Alternativen zu.
Wo werden die Menschen nicht ernst genommen?
Ich nehme das Beispiel der Automobilindustrie.
Oh, Überraschung.
Da wird jetzt das Aus vom Verbrenner-Aus von der Regierung gefeiert. Das wäre auch ein großer Erfolg, für den ich bekanntlich keinem Streit in der Ampel aus dem Weg gegangen bin. Tatsächlich stellen die Betroffenen, die bei einem der großen deutschen Hersteller arbeiten, im Nachhinein aber fest: Das Gegenteil von Technologieoffenheit ist der Fall! Weil bei den deutschen Dienstwagenflotten - die so wichtig sind für Premiumhersteller wie Mercedes, Audi oder BMW - kommt das Verbrennerverbot de facto 2030 und damit fünf Jahre früher. Die Regierung Merz hat also keine Erleichterung, sondern eine Verschlimmbesserung mit Blick auf die Arbeitsplätze. Das muss dringend korrigiert werden.
Glauben Sie, dass sich das E-Auto nicht ohnehin schnell durchsetzt? Und dass das 2035, vielleicht auch schon 2030 gar nicht mehr so ein Thema ist?
Ohne Frage, Plug-in-Hybride und E-Fahrzeuge sind tolle Optionen. Aber die Menschen verdienen Wahlfreiheit. Es geht zudem darum, wie verlässlich sich die Wirtschaft auf veränderte Rahmenbedingungen einstellen kann. Da sehe ich ein Problem. Weshalb ich bekanntermaßen dafür eintrete, dass man einfach nur sagt, das Auto soll klimaneutral sein. Auf welchem Weg das erfolgt, ist Sache der Technikerinnen und Ingenieure, der Kundinnen und Kunden.
Sie hatten sich auch immer vehement gegen die Neuverschuldung ausgesprochen, gegen ...
… gegen eine uferlose …
… eine Neuverschuldung, die nicht auf Investitionen einzahlt. Jetzt haben wir ein Sondervermögen, also Schulden, in gigantischer Höhe. Ist das ein Investitionsbooster?
Die Zweifel sind leider gewachsen. Das Problem in der Vergangenheit war stets, dass das Geld, das für Investitionen vorgesehen war, gar nicht abgeflossen ist. Wegen unserer bürokratischen Verfahren und auch wegen der Begrenztheit der Kapazitäten beim Bau. Es wird auch jetzt nicht so sein, dass plötzlich über Nacht unglaubliche Kapazitäten im Tiefbau entstehen. Ich erwarte daher, dass die Margen im Bereich des Tiefbaus in den nächsten Jahren steigen. Gut für die Unternehmen dort, weniger gut für den Steuerzahler.
500 Milliarden Euro sollen für Infrastrukturmaßnahmen eingeplant werden.
500 Milliarden Euro für alles Mögliche, leider gerade nicht nur für zusätzliche Investitionen. Das sehe ich kritisch, wenn die strukturellen Reformen zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit zugleich ausbleiben. Denn das Ergebnis könnte sein, dass wir bald zwar mehr Schulden, aber nicht im gleichen Umfang gestiegenes Potentialwachstum haben. Am Ende steht: zehn, zwölf oder mehr Prozent aller Ausgaben im Bundeshaushalt sind gebunden - durch Zinsen für die Vergangenheit. Das zahlen die Bürgerinnen und Bürger dann durch höhere Steuer- und Abgabenlast.
Und die Strukturreformen?
Ich sehe gegenwärtig keine durchgreifenden Strukturreformen.
Vielleicht Ansätze?
Beim Bürgergeld passiert jetzt ein bisschen was. Es wird umbenannt …
… jetzt Grundsicherung …
… und die Sanktionen werden geschärft. Das ist völlig richtig, geht aber nicht weit genug.
Was fehlt?
Die Pauschalierung der Kosten der Unterkunft beispielsweise wäre eine Verwaltungsvereinfachung und brächte auch zusätzliche Anreize, mit den Ressourcen sparsamer umzugehen. Wir brauchen aber grundsätzlich einen schlankeren Sozialstaat, steuerliche Entlastungsmaßnahmen für die Wirtschaft, nicht erst Ende des Jahrzehnts, Klimaneutralität 2050 und nicht schon 2045.
Die Regierung ist unbeliebt. Aber im Ausland sind die Regierungen auch unbeliebt, zum Beispiel in Frankreich und Großbritannien. Ist da etwas Größeres im Gange?
Es gibt gewiss Phänomene, die in den westlichen Demokratien vergleichbar sind, die zu tun haben mit verändertem Kommunikationsverhalten, Fragmentierung von Gesellschaften und schlicht einem multiplen Veränderungsdruck. Dass die internationale Politik sich verändert, dass wir disruptive Technologien haben, die Menschen natürlich auch Angst machen, dass sie zum Beispiel aufgrund der künstlichen Intelligenz auch in ihrem qualifizierten Arbeitsplatz keine Zukunft mehr haben.
Zurück in die verklärte Vergangenheit?
Diejenigen, die aus dieser Lage politischen Profit schlagen, sind ja oft diejenigen, die das falsche Versprechen machen, alles könne so bleiben, wie es ist. Oder man könne sich einfach zurückträumen in eine Vergangenheit, die allerdings meistens nie so rosig gewesen ist, wie sie heute dargestellt wird.
Wie könnten die anderen Parteien darauf reagieren?
Ich wage einmal ein argumentatives Experiment. Vielleicht ist es nötig, dass Politikerinnen und Politiker unpopuläre Entscheidungen treffen, von deren Richtigkeit sie überzeugt sind, auch wenn damit das Risiko der eigenen Abwahl verbunden ist? Vielleicht ist es für manche eine Provokation, wenn ich hier an Javier Milei erinnere, der mit radikalen, libertären Reformen Argentinien wirtschaftlich wieder flott machen will und der dennoch bei seinen Zwischenwahlen unlängst einen beachtlichen Wahlerfolg erzielt hat.
Das ist in Deutschland nicht möglich. Wir suchen Kompromisse, Ausgleich.
Gerhard Schröder hat das anders gemacht. Ich bin jetzt weit entfernt davon zu sagen, dass die Agenda 2010 allein unser Land wieder auf den Erfolgspfad geführt hat, aber immerhin gab es einen Basta-Kanzler, der die eigene Abwahl in Kauf genommen hat, um aber dann fast wiedergewählt zu werden, weil er fulminant 2005 aufgeholt hatte …
… fast wiedergewählt eben nur …
… ja, stimmt. Worauf ich hinaus will: Zeitgleich, 2005, hat eine CDU-Kanzlerkandidatin Angela Merkel mit einem ambitionierten Leipziger Programm erfahren, dass sie fast nicht gewählt worden wäre. Und irgendwie ist das im kollektiven Bewusstsein der Politik verdreht worden. Nicht der Fastgewinn von Gerhard Schröder nach mutiger Reformpolitik wurde vorbildhaft, sondern es hat den Anschein, dass die Ängstlichkeit der Union 2005 die Beweglichkeit politischer Entscheider heute stärker prägt.
Da denke ich spontan an die Rente. Wobei jetzt immerhin das Altersvorsorgedepot kommt.
Der Auftritt des Bundeskanzlers bei der Jungen Union hat diese Ängstlichkeit in der Tat gezeigt. Er bekannte, dass man aus Gründen der strukturellen Mehrheitsfähigkeit der Union das Problem der Rente erst einmal größer machen müsse, um es dann nach 2030 zu lösen. Das Altersvorsorgedepot ist allerdings die beste Idee der Großen Koalition – die sie selbst nicht hatte. Das wäre wirklich ein Game-Changer. Man muss ja den unter 50-jährigen sagen, wer wirklich noch an das Versprechen der Politik glaubt, dass die gesetzliche Rente in dreißig Jahren noch den Lebensstandard sichern wird, der verlässt sich auch auf den Osterhasen. Ich bin allerdings gespannt, in welcher Form das Altersvorsorgedepot nun kommt. Bekanntermaßen ist die Grundkonstruktion noch von mir als Finanzminister verantwortet worden. Aktuell sehe allerdings schon Veränderungen.
Welche Veränderungen gibt es?
Mein Gesetzentwurf hatte 3000 Euro als förderfähige Sparleistung vorgesehen. Das schien mir zu wenig, aber mehr war nicht möglich. Ich halte 6000 Euro für angemessen. Jetzt, unter einer CDU-geführten Regierung, sind es sogar nur noch maximal 1800 Euro und damit deutlich weniger als zu Ampel-Zeiten geplant. Das bedeutet, dass die Sparleistung qualifizierter Beschäftigter mit höherem Einkommen nicht besonders gefördert wird. Ich halte es für falsch, dass die Politik diese Menschen vergisst – außer, wenn sie zur Kasse gebeten werden. Ein spannender Punkt für das parlamentarische Verfahren ist zudem: Welche Lobby setzt sich durch? Ist es die Versicherungslobby oder ist es, wenn man so will, die Lobby verantwortungsbereiter Bürgerinnen und Bürger?
Die Lobby verantwortungsbereiter Bürgerinnen und Bürger? Kenne ich gar nicht.
Stimmt – das war ja die FDP, die momentan nicht im Parlament ist. Also worum geht es? Im Gesetzentwurf steht, dass Menschen sich entscheiden können: Wollen sie eine Leibrente bis zum Tod oder lieber einen Auszahlungsplan bis zum 85. Lebensjahr. Diese Wahlfreiheit finde ich richtig. Die Versicherungen wollen natürlich die Leibrente, die auf Lebenszeit läuft. Das Argument ist: Die Leute unterschätzen, wie alt sie werden. Aber natürlich sind da auch bestimmte ökonomische Interessen der Anbieter. Ich glaube dagegen, wir sollten den Menschen die Freiheit lassen, sich für einen Auszahlungsplan zu entscheiden. Es könnte ja Leute geben, die sagen, okay, wir nutzen erst den Auszahlungsplan und dann mit 85, falls wir es erleben, verkaufen wir unser Haus. Oder wie auch immer Menschen ihr Leben anlegen wollen.
Das neue Kabinett – gibt es da jemanden, der Sie überrascht oder sogar überzeugt hat?
Ich finde, wie angeschnitten, die Migrationspolitik von Alexander Dobrindt richtig und konsequent. Auch Katherina Reiche sagt und meint oft das Richtige, wenngleich ihr leider zuweilen die politische Unterstützung zu fehlen scheint.
Und von welchem der aktuellen Minister würden sie einen Gebrauchtwagen kaufen?
Ich würde da vor allen was in Zahlung nehmen beim Kauf eines Neuwagens. Die Damen und Herren Minister fahren aber ja leider Dienstfahrzeuge.
Okay, wir versuchen es mit einer anderen Gebrauchtwagenmetapher. Frage: Wenn die FDP ein Gebrauchtwagen wäre, was für einer wäre er dann?
Die FDP ist kein Gebrauchtwagen. Sie ist ein Liebhaberstück, vielleicht sogar Kulturgut.
Gibt es genug Liebhaber dafür?
Ich mische mich in die Neuaufstellung der FDP aus nachvollziehbaren Gründen nicht ein. Für alle Parteien und für alle Markenartikler gilt: Man muss die Frage überzeugend beantworten, warum es einen überhaupt gibt. Man muss dann dieses Produktversprechen auch einlösen. Und man braucht hinreichend große Reichweite, damit Menschen davon Notiz nehmen. Ich bin überzeugt davon, dass die FDP entlang dieser Aspekte ihre Neuaufstellung erfolgreich abschließen wird.
Wenn meine Tochter jetzt sagen würde "Mensch, was soll ich denn wählen?" Und ich sage, "Frag' doch mal den Lindner" …
… dann würde ich sagen: die liberale Partei.
Stimmt, das war erwartbar. Aber warum jetzt noch FDP?
Weil die FDP die einzige Partei ist, die ihr, also Ihrer Tochter, zutraut, dass sie ihr Leben selbstbestimmt führen kann. Die braucht nicht eine Biografie mit Stützrädern der Politik. Und dieses positive Menschenbild, das natürlich auch sehr voraussetzungsvoll ist, das verlangt, dass man sich um Bildung bemüht, dass man Verantwortung für eigene Entscheidungen übernimmt, dass man nicht andere verantwortlich machen kann für seine Misserfolge und Erfolge. Das ist ein forderndes, aber positives Menschenbild, das es so nur bei den Liberalen gibt.
Wenn Sie zurückblicken auf Ihre politische Laufbahn, denn Sie sagen, sie ist beendet - Wenn Sie also zurückblicken, woran möchten Sie gemessen werden? Worauf sind Sie stolz?
Jenseits von einzelnen Vorhaben, die ich beeinflussen konnte, bin ich stolz, dass ich mehrfach als Spitzenkandidat dafür sorgen konnte, dass das eben beschriebene liberale Lebensgefühl in Parlamenten zur Geltung kam. Mit beachtlichen Wahlerfolgen, die wir länger als ein Jahrzehnt hatten.
Und Misserfolgen.
Sicher. Aber ich sehe meine politische Laufbahn wie eine Sportlerkarriere, die sich nicht allein am letzten Wettbewerb entscheidet, sondern im Ganzen.
Schlussrunde. Bitte vervollständigen Sie diese Sätze:
Das letzte Buch, das mich wirklich beeindruckt hat, war…
"Audacity of Hope" von Barack Obama.
In Deutschland wird die ökonomische Wahrheit unterschätzt, dass …
Wir volkswirtschaftlich ein viel zu geringes Arbeitsvolumen haben.
Ich würde heute nicht mehr fordern, dass ...
Ich denke, die Überwindung des Bildungsföderalismus würde ich heute nicht mehr so priorisieren. Das wäre nur Folklore, denn niemals wird es passieren.
Das klingt resignativ. Ausgerechnet von Ihnen.
Nein, das ist ein Realismus.
Das sagen alle, die resigniert sind. In unserem Interview von 2016 haben Sie die Abschaffung des Bildungsföderalismus noch vehement verlangt.
Ich bin da klüger geworden und würde mich auf Erreichbares konzentrieren.
Jungen Politikern rate ich, …
Keine Ratschläge von Ausgeschiedenen anzunehmen.
Mein größter politischer Fehler war …
Nach dem Urteil des Verfassungsgerichts über die 60 Milliarden Euro während der Ampelzeit nicht entschieden eine Neuverhandlung des Koalitionsvertrages gefordert zu haben.
Mein größter privater Luxus ist heute …
Zeit mit meiner Tochter.
Ein Satz, den ich nie wieder hören möchte …
Die gefestigte Meinung des Hauses ist aber eine andere, Herr Minister.
Der letzte Moment, in dem ich wirklich wütend auf mich selbst war, war, als ich …
Im Sommer dieses Jahres festgestellt habe, dass ich mir viel für die vermeintlich freie Zeit nach dem Ausscheiden aus dem Bundestag vorgenommen, aber nichts davon eingelöst habe.
Hatten Sie eigentlich Angst vor dem leeren Kalender?
Nein, denn der hat sich sofort wieder gefüllt. Das zweite Halbjahr 2025 war sehr intensiv.
Sie fangen doch erst am 1. Januar an?
Dieses Jahr war ich als Referent bei einer Vielzahl internationaler Konferenzen gebucht, um über die Lage der Weltwirtschaft zu diskutieren. Für den Steuerzahler war das gut, weil ich nicht einen Euro Übergangsgeld in Anspruch nehmen musste. Aber eben um den Preis, dass das, was ich mir eigentlich vorgenommen hatte, wie einmal mit der Familie drei Monate im Ausland leben, nicht vorkam.
Bei der nächsten Bundestagswahl bekommt die FDP …
Meine Stimme.
Mein Comeback auf der politischen Bühne Deutschlands erleben Sie …
Höchstens als einordnende Stimme. Aber sicherlich nicht als Kandidat.
Also absolut nie?
"Nie" sollte man prinzipiell nicht sagen. Aber die Wahrscheinlichkeit geht gegen Null. Ich habe keine Wunde, mit der ich aus der Politik ausscheide und die ich irgendwie verarzten müsste durch ein Comeback. Meine Leidenschaft für Gestaltung lebe ich nun im Unternehmertum aus.
Mit Christian Lindner sprachen Tilman Aretz und Volker Petersen.