Flucht aus Gaza nach Israel "Ich wurde zum fanatischen Antisemitismus erzogen"
16.12.2023, 14:02 Uhr Artikel anhören
Demonstration in Gaza-Stadt im April 2022.
(Foto: picture alliance / ZUMAPRESS.com)
Dor Shachar kam als Aiman Abu Suboh im Gazastreifen zur Welt. Im Alter von 12 Jahren entschied er sich zur Flucht. Er konvertierte zum Judentum und lebt bis heute in Israel. Über sein Leben schrieb er das Buch "Von Chan Junis zum Berg Sinai", das in Israel ein Bestseller war. Darin warnte er vor der islamistischen Gefahr aus dem Gazastreifen. Das Pogrom der Hamas am 7. Oktober hat ihn dennoch schockiert.
ntv.de: Das Massaker der palästinensischen Terrororganisation Hamas am 7. Oktober war das schlimmste Pogrom an Juden seit dem Holocaust. Waren Sie überrascht?
Dor Shachar: Nein, überhaupt nicht. Als Kind erlebte ich häufig die Gewalt der Hamas gegen die eigene Bevölkerung. Sie enthaupteten sogenannte feindliche Kollaborateure, schnitten ihnen die Gliedmaßen ab oder zogen sie mit dem Auto durch Chan Junis, bis sie qualvoll starben. Doch Juden zu töten, sehen sie als sakrale Mission.
Wie meinen Sie das?
Über Generationen werden die Palästinenser im Gazastreifen sowie ein großer Teil der Bewohner des Westjordanlands von der Hamas einer Gehirnwäsche unterzogen, dass es das größte Gebot sei, Juden zu töten, um ins Paradies zu kommen. Sie gelangen dort auch hin, wenn sie von "Ungläubigen" getötet werden, denn dann werden ihnen alle Sünden verziehen. Die Indoktrination beginnt schon im Kindergarten, wo mir damals beigebracht wurde, dass Juden drei Füße hätten.
Und das haben Sie geglaubt?
Diese kriminelle Propaganda funktioniert wie in Deutschland während der Nazi-Zeit. Als ich drei Jahre alt war, erklärte mir sogar mein Großvater - der ursprünglich aus Jaffa stammte - dass alle Juden Mörder wären, die das Land meiner Vorfahren geraubt hätten. Wenn ich alt genug sei, müsste ich sie bekämpfen, töten und vertreiben, um alles, was uns gestohlen wurde, zurückzuholen.
Wird in der Schule auch der Holocaust behandelt?
Nein, denn die meisten Palästinenser im Gazastreifen leugnen dieses Jahrhundertverbrechen. Die wenigen, die wirklich glauben, dass sich die Shoah ereignete, wünschen es den Juden ein weiteres Mal.
Sie verließen Ihre Familie und brachen mit der islamischen Kultur. Warum wollten Sie jüdisch werden und in Israel leben?
Als Kind wurde ich zu Hause und in der Schule zu einem fanatischen Antisemitismus erzogen. Mein Vater drohte mit harschen Strafen, sollte ich den palästinensischen Kampf nicht weiterführen. Irgendwas in meiner Seele sagte mir, dass ich nicht zu dieser gewalttätigen Gesellschaft gehören wollte. Als Minderjähriger lief ich davon, lebte und arbeitete sieben Jahre illegal in Israel. Ich wurde verhaftet und kam für einige Monate in ein Gefängnis, in dem arabische Terroristen inhaftiert waren, die mich als Verräter sahen und ständig verprügelten. Ich wurde in den Gazastreifen ausgewiesen und von der Hamas gefoltert. Über Ägypten konnte ich erneut fliehen und über die Türkei nach Israel kommen.
Wo Sie erst mit Erreichen des 18. Lebensjahrs zum Judentum übertreten durften. Wer unterstützte Sie dabei?
Ich arbeitete auf einer Baustelle und hatte dort einen älteren Vorgesetzten, der mich später adoptierte. Er und seine Frau halfen mir sehr. Unter anderem brachten sie mir das Lesen und Schreiben auf Hebräisch bei. Durch sie lernte ich auch zu lieben, statt zu hassen, und das Leben zu genießen. Als ich ihnen erzählte, dass ich konvertieren wollte, waren sie zwar geschockt, aber sie unterstützten mich dabei. Es war ein langer Prozess, bis ich an einer Jeschiwa [einer jüdischen Hochschule] mit meinem Übertritt zum Judentum beginnen konnte.
Mittlerweile leben Sie in der Nähe von Tel Aviv und warnten schon lange vor der Gefahr aus dem Gazastreifen. Das Pogrom der Hamas und die Geiselnahme haben den brüchigen Waffenstillstand tatsächlich beendet. Hat die Hamas mit einer so harten Antwort der israelischen Streitkräfte (IDF) gerechnet?
Die Hamas hat diesen Krieg mit Hilfe des Iran lange vorbereitet. Allerdings haben sie nicht damit gerechnet, dass die IDF mit Bodentruppen einmarschieren werden. Doch sie wissen natürlich, dass Israel die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft braucht und sich deshalb an das Völkerrecht halten muss. Der Hamas ist es im Grunde nicht wirklich wichtig, Gaza zu kontrollieren. Den Kampf gegen Israel aufrechterhalten zu können, ist ihr eigentlicher Erfolg.
Israels Ziel ist es, die Hamas zu entmachten und alle Geiseln zu befreien. Ist dies möglich?
So eine Terrororganisation zu stürzen, kann sehr lange dauern, und ob alle Geiseln noch leben, weiß auch niemand so genau. Für einen demokratischen Rechtsstaat ist diese asymmetrische Kriegsführung eine schwierige Angelegenheit. Ein diktatorisches Regime hätte nicht nur Chan Junis und Rafah dem Erdboden gleichgemacht, sondern auch alle Hilfslieferungen nach Gaza eingestellt, um die Hamas schnell in die Knie zu zwingen. So etwas aber kann Israel nicht machen.
Wissen Sie, wie es Ihren Angehörigen im Gazastreifen geht?
Am 7. Oktober sahen wir, dass viele Zivilisten sich nach den Angriffen der Hamas den Terroristen anschlossen, nach Israel eindrangen und zahlreiche Verbrechen an der israelischen Bevölkerung begingen. Als die Geiseln in Gaza wie Trophäen präsentiert wurden, jubelten die Menschen und bespuckten sie.
Im Gazastreifen leben fast zwei Millionen Palästinenser. Ist wirklich jeder Anhänger der Hamas?
Natürlich nicht. Doch ähnlich wie in Nazi-Deutschland werden die Menschen dort seit Jahren mit fanatischem Judenhass indoktriniert. Sie sehen Israel als Feindbild. Um eine solche Gesellschaft von dieser vergifteten Propaganda zu befreien, braucht es eine Mischung aus Friedenspolitik und Wohlstand. Doch das ist ein langer Prozess.
Gibt es kein Aufbegehren gegen die Hamas-Diktatur?
Wie in allen Diktaturen ist die Bevölkerung eingeschüchtert und fürchtet sich. Doch die Wahrheit ist auch, dass, wenn den Juden Leid widerfährt, sich die Menschen dort freuen und Süßigkeiten verteilen. So etwas wird nicht von der Hamas befohlen.
Wie lange wird dieser Krieg Ihrer Meinung noch dauern?
Ich schätze, nicht mehr allzu lange. Israel sind die Hände gebunden. Der Druck der internationalen Gemeinschaft wird immer größer. Dies bedeutet, dass sich die Hamas wieder neu organisieren und wie in den letzten Jahren den Krieg gegen den jüdischen Staat fortsetzen wird. Wenn man sich ihre Entwicklung ansieht, dann werden sie womöglich beim nächsten Konflikt etwas Ähnliches wie am 7. Oktober planen, nur dass es womöglich in Tel Aviv oder in einer anderen Großstadt stattfinden wird.
Israel wird seine Ziele also nicht erreichen?
Vielleicht werden die noch lebenden Geiseln nach einem weiteren Gefangenenaustausch zurückkommen. Doch das Land wird auf Jahrzehnte traumatisiert bleiben und leider wird der nächste Krieg nicht lange auf sich warten lassen.
Und der Gazastreifen?
Israel wird keine andere Möglichkeit haben, als den Gazastreifen für einige Jahre zu besetzen, den Küstenstreifen von der Hamas zu "säubern" und gleichzeitig mithilfe der internationalen Staatengemeinschaft sowie einer neuen gemäßigten lokalen Führung - aber nicht mit der korrupten Palästinensischen Autonomiebehörde - eine neue Gesellschaft aufzubauen. Ich bezweifle allerdings, dass das gelingt.
Sie glauben nicht an eine friedliche Lösung des Nahostkonflikts?
Bedauerlicherweise nein. Denn es geht in diesem Konflikt nicht mehr nur um das Heilige Land. Es ist ein Religionskrieg gegen die jüdischen und christlichen "Ungläubigen" weltweit. Nach dem 7. Oktober sollten die westlichen Länder gewarnt sein.
Mit Dor Shachar sprach Tal Leder
Quelle: ntv.de