Reisners Blick auf die Front"In einer Kompanie mit 150 Ukrainern sind noch 13 kampfbereit"
Lea Verstl
Moskaus Truppen starten ihre Winteroffensive mit Attacken in Saporischschja. Eine spezielle Angriffstaktik und das neblige Wetter würden den Russen zu Vorstößen verhelfen, sagt Oberst Reisner. Die Ukraine stehe massiv unter Druck - auch aufgrund der Energiekrise.
ntv.de: Mehr als 36.000 Haushalte in der Region Odessa sind nach einem russischen Angriff ohne Strom. Bombt Moskau die Ukraine endgültig in eine Energiekrise?
Markus Reisner: Ja. Russland hat mit einer neuerlichen strategischen Luftkampagne gegen die Ukraine begonnen. Im Oktober sind durch die Luftangriffe circa 60 Prozent der Gasversorgung ausgefallen. Ungefähr die Hälfte davon konnte wieder repariert werden. Hinzu kamen die Angriffe auf die Wärmekraftwerke und die Umspannwerke. Täglich wird der Strom für 12 bis 16 Stunden abgeschaltet. In einigen Regionen gibt es bereits Blackouts. Die Energiekrise könnte in diesem Winter also besonders hart werden.
Die Ukrainer versuchen, die Energieinfrastruktur nach Attacken in Rekordzeit immer wieder aufzubauen. Welche Möglichkeiten gibt es, um die Infrastruktur vor den Angriffen zu schützen?
Es gibt einige Möglichkeiten. Das ist besonders interessant im Zusammenhang mit dem Korruptionsskandal, der sich in den obersten Reihen der ukrainischen Regierung abspielt. Bei dem Skandal geht es um veruntreute Gelder, die hätten verwendet werden sollen, um die kritische Infrastruktur zu schützen, zum Beispiel durch die bauliche Verstärkung von Transformatoren durch Betonhüllen. Ein weiteres Problem: Die ortsfesten Anlagen sind vor Angriffen leicht aufklärbar, weil sie ortsfest sind. Die Zerstörung kann also ausschließlich durch massiven Schutz verhindert werden. Es gibt einige Bilder, die zeigen, wie Betonummantelungen um die Anlagen gebaut und zusätzliche Netze gegen Drohnen gespannt wurden. Aber die Russen haben mittlerweile eine enorme Intensität in der Luftkriegsführung erreicht.
Wie zeigt sich das?
Nach Angaben des ukrainischen Nachrichten- und Geheimdienstes wurden allein dieses Jahr in Russland mehr als 80.000 Drohnen produziert. Außerdem wurden in diesem Jahr bereits 1500 ballistische Raketen und Tausende Marschflugkörper eingesetzt. Und die Russen setzen oft mehrere Marschflugkörper oder Raketen auf ein Ziel gleichzeitig an. Das heißt: Wenn bei einem Angriff von, sagen wir mal, 10 bis 12 Raketen insgesamt 8 bis 10 durch die ukrainische Luftabwehr abgeschossen werden, bleiben welche übrig. Die zwei Treffer zerstören dann die Anlagen, wenn diese nicht entsprechend geschützt sind.
Kann man bereits von dem Beginn der russischen Winteroffensive sprechen?
Auf jeden Fall. Die russische Sommeroffensive hat etwas länger angedauert, da die Schlammzeit Rasputiza spät begonnen hat. Die Russen haben sich reorganisiert für ihre Winteroffensive. Das Schwergewicht liegt zurzeit im Raum Saporischschja, und zwar südlich von Pokrowsk in Richtung Westen. Die Russen greifen bei Huljajpole einen wichtigen Logistikknotenpunkt an. Das sind jene Schlachtfelder, auf denen die Ukraine 2023 versucht hat, vorzustoßen.
Nun stoßen dort aber die Russen vor?
Man kann die Front unterteilen in den Nord-, Mittel- und Südabschnitt. Im Südabschnitt sind noch Verteidigungsanlagen aus dem Jahr 2023 vorhanden. Damals hatten sich die Russen eingegraben, die Ukrainer wollten vormarschieren. Mittlerweile stoßen aber die Russen wieder in diese Gebiete vor. Südlich von Pokrowsk sind sie auf einer Breite von circa 30 bis 35 Kilometern bis zu 10 Kilometer vorgestoßen und haben einige Ortschaften eingenommen. Der Logistikknotenpunkt Huljajpole im Südabschnitt in Saporischschja ist in Gefahr, eingenommen zu werden. Ähnliches sehen wir auch bei Orichiw. Das ist eine Stadt westlich von Mala Tokmachka, einem Ort, in welchem bereits russische Truppen präsent sind.
Warum haben die Russen momentan mehrere Erfolge?
Zwei Umstände begünstigen sie. Das Erste ist die Art und Weise, wie die Russen angreifen, mit kleinen Stoß- und Sturmtrupps. Das Zweite sind die Wetterbedingungen. Wir haben jetzt im Herbst viel Nebel, der den ukrainischen Drohnenoperatoren die Sicht nimmt. Das nutzt Russland aus, indem es mit kleinen Trupps von Soldaten angreift, um einen Brückenkopf oder eine Eintrittsstelle in die Verteidigungsstellungen zu bilden. Anschließend schiebt die russische Seite schweres Gerät nach. Moskaus Truppen nutzt zudem die Bindung ukrainischer Kräfte im Raum Pokrowsk, um an anderer Stelle einen Erfolg zu erzielen.
Auch die Ukrainer wollen die Russen durch die Kämpfe rund um Pokrowsk binden - um ihre Verteidigungslinien auszubauen. Für welche Kriegspartei hat die Bindung der feindlichen Truppen bei Pokrowsk mehr Vorteile?
Die Ukrainer haben einen Nachteil, weil es keine ausgewogene Kräfteverteilung auf beiden Seiten gibt. Auf einen ukrainischen Soldaten kommen in Schwergewichtsräumen wie in Pokrowsk bis zu zehn russische Soldaten. Damit sie handlungsfähig bleiben, brauchen die Ukrainer Reservetruppen. Auf der taktischen Ebene, um sie unmittelbar einzusetzen, also direkt an der Front. Auf der operativen Ebene, um sie über mehrere Kilometer heranzuführen. Und drittens auf der strategischen Ebene, also Kräfte, die sie im Hinterland halten und dann in Schwergewichtsräumen einsetzen.
Und den Ukrainern fehlt das Personal für all diese Reserven?
Wir haben das in Pokrowsk gesehen. Russland hat versucht, in die Verteidigungsstellungen nördlich der Stadt einzubrechen. Der Versuch wurde gestoppt. Aber dafür musste die Ukraine strategische Reserven einsetzen, das sogenannte Erste Asow Korps, das bis heute gebunden ist. Die Ukraine tut sich also schwer, Kräfte aufzustellen, um den Russen etwas entgegenzusetzen. Die Stadt Pokrowsk könnte nur durch einen massiven Gegenangriff befreit werden. Dafür fehlen aber die Kräfte. Die Ukraine versucht, zumindest den Kessel nahe der Stadt so weit und so lange wie möglich offen zu halten, damit die ukrainischen Soldaten sich weiter absetzen können. Aber Russland hat mehr Truppen und kann diese an anderer Stelle wieder einsetzen, wie zum Beispiel bei Saporischschja, Kupjansk oder Sewersk.
Wie viele Soldaten hat Moskau?
Die Russen haben einen Zulauf circa 30.000 bis 35.000 neuen Soldaten pro Monat, während die Ukraine von circa 17.000 eigenen zulaufenden Soldaten spricht. Aber man sieht auf allen Ebenen den eklatanten Mangel an ukrainischen Soldaten. Ich habe letzte Woche mit einem Kameraden telefoniert, der einem Verband angehört, der vor Kurzem im Einsatz war. Er hat erzählt, wie ausgedünnt seine Kompanie ist. In seiner Kompanie mit 150 Ukrainern sind nur noch 13 kampfbereit.
Umso wichtiger, dass sich die verbliebenen Ukrainer aus Pokrowsk zurückziehen können, oder?
Vor knapp zehn Tagen ist Pokrowsk faktisch gefallen. Am nördlichen Rand der Stadt gibt es einige Plattenbauten, wo noch teilweise ein kleines Gebiet von ukrainischen Soldaten gehalten wird. Aber Sie müssen sich das vorstellen wie eine Senftube. Wenn Sie die ausdrücken, dann ist ganz zum Schluss noch ein kleiner Rest drinnen, den Sie kaum herausbekommen. Aber die Tube ist im Prinzip leer und das heißt für Pokrowsk die Stadt ist in russischer Hand. Die Ukrainer bleiben dort, um den Raum nördlich und nordöstlich von Pokrowsk zu verteidigen. Sie halten dafür einen kleinen Korridor zum Kessel ostwärts der Stadt offen. Die Ukrainer wollen alle ihre Soldaten aus dem Kessel herausbekommen. Das ist vor allem die 38. Marinebrigade.
Es gibt neben Porkowsk fünf weitere Kessel, in denen Kämpfe toben. Wie sieht es dort aus?
Wir sehen von Norden beginnend Schwerpunkte bei Kupjansk, Lyman, Siwersk, Kostjantyniwka, Pokrowsk und Nowopawliwka. Dort spitzt sich die Situation zu. Unter dem Schutz des Nebels sind die Russen in die Stadt Nowopawliwka vorgestoßen. Ähnliches versuchten sie bei Kostjantyniwka und Siwersk. Der Druck auf die Ukraine nimmt also massiv zu.
Mit Markus Reisner sprach Lea Verstl