Politik

Interview mit Andrea Kießling Intensivbetten nur für Geimpfte statt Impfpflicht für alle?

Wie viele Operationen in Deutschland wegen Corona-Patienten auf den Intensivstationen verschoben werden mussten, ist unbekannt.

Wie viele Operationen in Deutschland wegen Corona-Patienten auf den Intensivstationen verschoben werden mussten, ist unbekannt.

(Foto: picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild)

Wäre es möglich, Ungeimpfte darauf zu verpflichten, im Fall einer Corona-Erkrankung auf eine Intensivbehandlung zu verzichten? Und könnte das eine Alternative zur Impfpflicht sein? Theoretisch ja, sagt die Juristin Andrea Kießling. Sinnvoller sei jedoch, zu vermeiden, überhaupt in eine solche Triage-Situation zu kommen.

ntv.de: Die Ampelkoalition diskutiert gerade, welche Rechtsgrundlage die "Basisschutzmaßnahmen" ab dem 20. März haben sollen, wenn die jetzige Regelung im Infektionsschutzgesetz ausläuft. War die alte Regelung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite, die die neue Bundesregierung außer Kraft gesetzt hat, vielleicht doch sinnvoller?

Andrea Kießling ist Expertin für das Infektionsschutzgesetz. Sie vertritt derzeit den Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Sozial- und Gesundheitsrecht und Rechtsphilosophie der Uni Bochum.

Andrea Kießling ist Expertin für das Infektionsschutzgesetz. Sie vertritt derzeit den Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Sozial- und Gesundheitsrecht und Rechtsphilosophie der Uni Bochum.

(Foto: privat)

Andrea Kießling: Die alte Regelung war vor allem ein Mechanismus, um den Bundestag alle drei Monate in die Verlängerung der Corona-Maßnahmen einzubinden. Der ist im November weggefallen, und ich glaube, wir brauchen ihn nicht wieder. Die Frage ist eher, warum das Infektionsschutzgesetz schon wieder geändert werden soll. Paragraph 28a Absatz 7 war erst im November eingefügt worden, um den Bundesländern auch ohne epidemische Lage Corona-Maßnahmen zu ermöglichen.

Die FDP will diese Maßnahmen streichen.

Man könnte diese Regelung einfach noch mal um drei Monate verlängern, das Gesetz sieht das sogar ausdrücklich vor.

Wenn ohnehin die Länder zuständig für die konkrete Anordnung von Corona-Maßnahmen sind, warum überlässt der Bund es dann nicht auch den Ländern, darüber zu entscheiden, welche Regelungen sie anwenden oder nicht?

Mir wird in dieser Diskussion viel zu wenig unterschieden zwischen dem Ende der Maßnahmen und dem Ende der Rechtsgrundlagen. Eine Verlängerung der Rechtsgrundlagen bedeutet ja noch lange nicht, dass alle Maßnahmen von den Ländern auch ergriffen werden. Das Infektionsschutzgesetz ist nur eine Grundlage dafür, auf der die Länder entscheiden, was sie machen. Offenkundig will der Bund einen möglichst engen Rahmen vorgeben. Ich halte das für problematisch. Im Gefahrenabwehrrecht machen wir das sonst auch nicht so.

Ein Aspekt der Gefahrenabwehr ist die Impfpflicht. Aus juristischer Sicht ist ein zentraler Grund für eine Impfpflicht, das Gesundheitssystem vor einer Überlastung zu schützen, richtig?

Ja. Wenn man sich ansieht, wie die Impfstoffe gegen die Omikron-Variante wirken, ist dieses Argument wohl eines, das man am ehesten zur Begründung einer Impfpflicht heranziehen kann. Denn bei Omikron schaffen wir es durch die vorhandenen Impfstoffe weniger, die Menschen vor Infektionen zu schützen. Aber vor schwerwiegenden Verläufen schützt die Impfung ja nach wie vor. Eine Impfpflicht müsste also das Ziel haben, die Intensivstationen vor einer Überlastung zu schützen. Vor allem eine Impfpflicht ab 50 könnte man so rechtfertigen, weil genau dies die Personengruppe ist, die am ehesten auf den Intensivstationen landet.

Im Moment sieht es nicht so aus, als hätte eine allgemeine Impfpflicht eine politische Mehrheit im Bundestag. Wäre es alternativ möglich, dass Ungeimpfte verpflichtet werden, im Fall einer Corona-Erkrankung auf intensivmedizinische Behandlung zu verzichten, wenn hohe Infektionszahlen das Gesundheitswesen zu überlasten drohen?

Das Argument hinter dieser Frage ist, dass man die Ungeimpften an ihre Entscheidung bindet. Man würde ihnen sagen: Ok, ihr müsst euch nicht impfen lassen, und wir fragen auch nicht, warum ihr das nicht wollt - aber wenn es hart auf hart kommt, müsst ihr die Folgen eurer Entscheidung tragen. Das wäre durchaus eine Form der Eigenverantwortung. Aber die Frage ist natürlich, ob man diese Menschen wirklich dazu verpflichten kann, im Fall der Fälle auf eine intensivmedizinische Behandlung zu verzichten. Grundsätzlich hat jeder Anspruch auf medizinische Behandlung, wir zahlen ja alle in die gesetzliche Krankenversicherung ein oder sind privat versichert. Dadurch haben wir alle einen Anspruch auf Behandlung.

Bei überfüllten Intensivstationen kann dieser Anspruch von Patienten nicht wahrgenommen werden, die wegen anderer Erkrankungen auf eine Operation warten müssen. Es gibt in Deutschland keine Zahlen darüber, weil verschobene Operationen nicht erfasst werden. Aber in Großbritannien waren es im Oktober und November 2021 mehr als 13.000. Wäre es nicht legitim zu sagen: Die Operation der geimpften Krebspatientin hat Vorrang?

Damit sind wir mitten in der Triage-Diskussion. Über Maßnahmen wie die von Ihnen beschriebene würde man die Entscheidung darüber, wer welche Behandlung bekommt, nach vorne verlagern. Und dennoch ist vorstellbar, dass Ärztinnen und Ärzte trotzdem in eine Situation kommen, in der sie eine solche Entscheidung treffen müssen.

Es gäbe dann aber eine Rechtsgrundlage.

Triage-Fragen sind komplex. Dabei geht es auch darum, wie lange ein Patient ein Intensivbett benötigt, es geht um die Art der Erkrankung und die Chance auf Genesung. Diese Fragen würden ausgeblendet, wenn allein der Impfstatus über die Intensivbehandlung entscheiden würde. Ich glaube auch, dass das Problem nur vermeintlich nach vorne verlagert würde. Vielleicht würden viele Ungeimpfte, die unter medizinischen Gesichtspunkten die Möglichkeit hätten, sich impfen zu lassen, jetzt den Verzicht auf eine intensivmedizinische Behandlung erklären. Viele von ihnen gehen wahrscheinlich davon aus, dass eine Infektion für sie ungefährlich ist. Aber was passiert, wenn sie schwer erkranken und ihre Meinung ändern? Soll ein Krankenhaus einem Patienten dann trotzdem die Lungenmaschine verweigern? Wir hätten wieder die Situation, die wir vermeiden wollen, nämlich dass Patienten zurückgewiesen werden. Ich glaube nicht, dass man Medizinern so eine Situation auferlegen kann. Und wer bestimmt eigentlich, wann das Gesundheitssystem überlastet ist? Am sinnvollsten scheint mir daher zu sein zu vermeiden, überhaupt in eine solche Situation zu kommen. Deshalb würde ich die Impfpflicht immer einer solchen Konstruktion vorziehen.

Wäre eine Regelung denkbar, mit der eine Impfpflicht gilt, von der man sich befreien lassen kann, indem man auf intensivmedizinische Behandlung verzichtet? Wiederum mit dem Ziel, keine Operationen verschieben zu müssen?

Das würde voraussetzen, dass man die Leute darüber aufklärt, was die Folgen einer Impfung oder eines Verzichts auf eine Impfung sind. Einzelne Modelle einer Impfpflicht sehen verpflichtende Aufklärungsgespräche ja vor, in denen durchaus die eigenverantwortliche Entscheidung herausgestellt werden könnte. Theoretisch ließe sich da das Konstrukt einer Verzichtserklärung einbauen. Aber es bestünde trotzdem weiter die Möglichkeit, dass ein Mediziner in die Situation kommt, einem kranken Patienten eine Behandlung vorzuenthalten.

Wäre es rechtlich möglich, Ungeimpfte an den Kosten der Behandlung zu beteiligen?

Der Präsident des Bundessozialgerichts hat tatsächlich gerade vorgeschlagen, Ungeimpfte maßvoll an den Kosten ihrer Corona-Behandlung zu beteiligen. Im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung gibt es bereits eine Regelung, in der so etwas theoretisch ergänzt werden könnte. Es ist also nicht so, dass das Recht solche Ansätze nicht kennt, aber das ist sehr umstritten.

Welche Regelung meinen Sie?

In Paragraph 52 Absatz eins der Bestimmungen zur gesetzlichen Krankenversicherung heißt es, dass ein Versicherter in angemessener Weise an den Kosten der Behandlung beteiligt werden kann, wenn er sich eine Krankheit vorsätzlich zugezogen hat. Das könnte auf Leute zutreffen, die sich nicht impfen lassen wollen, sich aber absichtlich mit Corona infizieren - das scheint es ja zu geben. Absatz zwei dieses Paragraphen besagt, dass Versicherte in angemessener Höhe an den Kosten beteiligt werden können, wenn sie sich eine Krankheit infolge von Schönheitsoperationen, Tätowierungen oder Piercings zugezogen haben. Das könnte man erweitern. Allerdings ist das eine in der Rechtswissenschaft sehr umstrittene Vorschrift. Aus meiner Sicht wäre es vertretbar, das zu machen. Aber ich weiß nicht, ob ich das empfehlen würde. Das sind Erwägungen, die zum Recht der gesetzlichen Krankenversicherung eigentlich nicht passen. Auch hier würde ich die Impfpflicht für sinnvoller halten.

CoronavirusAlter der Intensivpatienten

Dem Bundestag liegen drei Gesetzentwürfe zur Regelung einer Impfpflicht vor. Welchen Vorschlag finden Sie am sinnvollsten?

Angesichts der neuen Situation mit der Omikron-Variante halte ich eine allgemeine Impfpflicht ab 18 für schwer zu rechtfertigen. Stand jetzt wäre die Impfpflicht ab 50 sicher die sinnvollste Lösung.

Bei der Ministerpräsidentenkonferenz in der vergangenen Woche gab es eine Reihe von Protokollerklärungen zur Impfpflicht in Kliniken und Pflegeeinrichtungen. Bayern etwa fordert "praxistaugliche, bundeseinheitliche Vollzugsregeln". Glauben Sie, dass die einrichtungsbezogene Impfpflicht von allen Bundesländern tatsächlich umgesetzt wird?

Das muss man schauen, was da eigentlich umgesetzt werden muss. Die einrichtungsbezogene Impfpflicht besteht darin, dass Leute, die in Kliniken und Pflegeeinrichtungen arbeiten, bei der Leitung ihrer jeweiligen Einrichtung einen Immunisierungsnachweis vorlegen müssen. Sie müssen also nachweisen, dass sie geimpft oder genesen sind. Das gilt auf jeden Fall, da muss kein Bundesland etwas umsetzen. Spätestens am 16. März, wenn diese Regelung gilt, müssen die Nachweise vorgelegt werden. Geschieht das nicht, müssen die Einrichtungen dem Gesundheitsamt das melden, auch das gilt unmittelbar durch das Gesetz. Im Gesundheitsamt wird dann über die weiteren Schritte entschieden. Erst da kommt die Vollziehung des Gesetzes durch die Behörden ins Spiel. Ich weiß gar nicht, auf welche Vollzugsregeln Bayern da wartet. Ich verstehe auch nicht das Argument, dass zu viele Pflegekräfte ungeimpft sind, um die einrichtungsbezogene Impfpflicht umzusetzen. Genau darum ging es bei diesem Gesetz doch: Dass medizinisches Personal und Pflegekräfte zum Schutz der Patienten geimpft sein müssen. Zumal wir aus anderen Ländern sehen, dass die befürchtete Abwanderung der Mitarbeiter möglicherweise ausbleibt.

Mit Andrea Kießling sprach Hubertus Volmer

Quelle: ntv.de

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